Die wichtigste Börse Deutschlands zog Kapital aus aller Welt an, die High Society Preußens richtete sich Palais ein, die Bürgeschaft flanierte zwischen gigantischen Kaufhäusern, riesige Prachtplätze wurden geplant, manche sogar gebaut. Heute ist von dem beeindruckenden Zentrum des Berlins der 1920er kaum noch etwas übrig.
2020 wird Berlin einhundert Jahre alt. Aber eine offene Debatte über die Berliner Altstadt findet in der Politik noch immer kaum statt – auch, weil das Thema ideologisch belastet ist. Dabei eignet sich kein Ort weniger für eine Vereinnahmung von irgendeiner Seite. Proletarisch, bürgerlich, adelig, intellektuell, multikulturell, multireligrös – die Altstadt war all das. Also begeben wir uns auf die Spur der verlorenen Mitte. In historischen Karten, Fotos und Luftbildern wollen wir in drei Kapiteln einen Eindruck davon vermitteln, wie Berlin kurz vor seiner Zerstörung durch Verkehrsplanungen und den Zweiten Weltkrieg aussah. Viel Spaß beim Erkunden!
Es war ein rasanter Wandel. Anfang des 20. Jahrhunderts wurde das Zentrum Berlins innerhalb kürzester Zeit vom Wohnort zum Wirtschaftszentrum umgebaut – und zu Preußens politischer Schaltzentrale. Bis zur Bildung der Metropole Groß-Berlin im Jahr 1920 halbierte sich die Bevölkerungszahl im alten Stadtkern auf 20.000 Einwohner. Der Prozess setzte sich seither nahezu ununterbrochen fort. Heute leben weniger als 8000 Menschen auf dem Gebiet der früheren Altstadt.
Die kleinteilige mittelalterliche Bebauung verschwand Stück für Stück zugunsten großer Blöcke für Büros und Gewerbe. Der Berliner Magistrat und später die Nationalsozialisten planten etwa rund um das Rathaus einen monumentalen Verwaltungsbezirk und gaben dafür komplette Viertel dem Abriss preis. Dazu kam der Verkehr. Ganze Häuserzeilen wichen dem Siegeszug der Kutschen und Autos. Die Stadt entwickelte sich zum einflussreichen Finanzdistrikt. Die Hauptstraßen des alten Berlins wandelten sich zur zentralen Shopping-Destination Preußens. Diese Orte spielten dabei eine besonders wichtige Rolle:
Berlin und das Königshaus, das war stets eine ambivalente Beziehung. Der Adel war schon seit dem frühen Mittelalter in der Stadt. Doch mit der Entscheidung der Hohenzollern, ihre ständige Residenz zentral auf die Cöllner Spreeinsel zu setzen, brachten sie das Bürgertum gegen sich auf. Berlin und Cölln wollten ihre Autonomie bewahren und begehrten gegen die „Zwingburg“ auf. Sie unterlagen. Die Hohenzollern bezogen 1451 nicht nur ihre Burg, sondern teilten die frisch fusionierte Doppelstadt zur Strafe wieder – und beraubten sie fast aller städtischer Privilegien. Diese Niederlage wirkt bis heute nach. Berlin hat im Vergleich mit anderen Städten noch heute ein vergleichsweise wenig ausgeprägtes bürgerliches Selbstbewusstsein.
Ab der Barockzeit zwangen die Hohenzollern den märkischen Adel in die Stadt. Mit der Nähe zum Hof wollten die Könige die Kontrolle sicherstellen. Also bauten nach den alten Patrizier- und Bürgerfamilien auch die Adelsgeschlechter teure Stadtpalais zum Schmuck der Residenz. Im Sommer weilte der Adel weiter meist auf seinen Landsitzen. Doch im Winter spielte sich das gesellschaftliche Leben um den Hof in Cölln ab. Man veranstaltete in den Palais große Bälle, um die Kinder zu verheiraten oder Geschäfte anzubahnen. Die Berliner Palais präsentierten sich nach außen eher zurückhaltend-schlicht. Ihre Pracht kehrten sie nach innen. Von den 36 Stadtpalästen aus der Zeit von 1680 bis 1780 sind nur noch fünf erhalten: Podewils, Schwerin, Glasenapp, Schönebeck und Happe.
Die Stadtplätze muteten mit Ausnahme des Schlossplatzes eher kleinbürgerlich-provinziell als pompös und weltstädtisch an. Der Molkenmarkt und der Neue Markt wurden erst nach der Aufgabe der Wochenmärkte Ende des 19. Jahrhunderts mit recht bescheidenen Mitteln zu „Schmuckplätzen“ umgestaltet. Dabei behandelten die Preußen-Könige die Altstadt vergleichsweise stiefmütterlich. Dennoch versprühten auch im alten Berlin viele Ecken ihren ganz eigenen Glanz. Das gilt besonders für die Königstraße, das Schmuckstück der Berliner Altstadt.
Nun, wo der Nachbau des Schlosses als Humboldt-Forum bald eröffnet wird, ist die Zeit gekommen, wieder ohne Scheuklappen über Gegenwart und Zukunft dieses historisch bedeutsamsten Orts der deutschen Hauptstadt zu reden. So schmerzhaft die Beschäftigung mit diesem Areal auch sein mag, an dem sich mehrere Regime abgearbeitet und dabei fast nichts übriggelassen haben.
Dazu muss man zunächst darüber reden, was die alte Mitte Berlins eigentlich genau war. Viele Berlinerinnen und Berliner registrieren diesen Raum heute vor allem als eine Art Verkehrshindernis, durch das man möglichst schnell hindurchfahren sollte. Sie wissen vielleicht nicht, dass hier überall Berlin in seiner ursprünglichen Form durchscheint. Hier nahm die Entwicklung zu der Metropole, die wir heute kennen, vor fast 800 Jahren ihren Anfang.
Einen weiteren Überblick über wichtige Orte der Berliner Altstadt bietet die folgende interaktive Karte. Darin finden Sie eine Vielzahl spannender Orte und kleiner Geschichten, die inzwischen zum größten Teil verschwunden oder vergessen sind. Sie können Karten aus unterschiedlichen Zeitschichten auswählen – und so zum Beispiel sehen, dass Theodor Fontane einst dort wohnte, wo heute Marx und Engels stehen.
Klicken Sie auf einzelne Orte für die Geschichten zu den Gebäuden und Plätzen!