Seit Mitte Juli werden wieder mehr Coronafälle in gemeldet – teilweise über 20.000 pro Tag. Mittlerweile sind es nicht mehr einzelne Ausbrüche, die für hohe Zahlen an Neuinfizierten sorgen, sondern zahlreiche Cluster, verteilt über die Bundesrepublik und Europa. Wurde die Chance auf ein rasches Ende der Pandemie durch politische Entscheidungen oder persönliche Gleichgültigkeit verspielt?
In diesem Artikel analysieren wir regelmäßig die Entwicklung der Pandemie, basierend auf Daten. Während wir in unserem Live-Artikel zu Corona in den Landkreisen, Bundesländern und der EU den Fokus auf die reine Darstellung der aktuellsten Coronazahlen legen, suchen wir hier nach Mustern und Indikatoren, die erklären helfen, warum sich die Pandemie in Deutschland regional so unterschiedlich entwickelt.
Die Eindämmung der Pandemie bleibt eine extrem lokale Aufgabe, wenngleich sie nur Erfolg hat, wenn sie national und international koordiniert ist. Auch deswegen kann die absolute Zahl der neuen Coronafälle täuschen. Große Ausbrüche, die nur sehr lokal begrenzt sind, müssen nicht zwangsläufig die umliegenden Regionen erreichen oder in andere Länder getragen werden, wenn gut reagiert wird. Spannend ist deshalb, wie viele der 401 deutschen Stadt- und Landkreise in Deutschland aktuell „coronafrei” sind – oder auf einem guten Weg dahin. Diese Zahl ist seit Mitte Juni extrem gesunken, im Oktober fiel sie wieder auf Null.
Gleichzeitig steigt die Inzidenz, also die Zahl der Neuinfizierten in binnen sieben Tagen pro 100.000 Einwohner*innen, in den meisten Regionen immer weiter an. Inzwischen melden nicht mehr nur einzelne, sondern die Mehrheit der Landkreise eine Inzidenz von mehr als 50 Neuinfektionen pro 100.000. Dieser Wert wurde von der Bundesregierung als kritischer Schwellenwert festgelegt. Dabei bilden diese Zahlen immer nur die Zahl der positiven Coronatests ab. Denn bis heute konnte nicht endgültig geklärt werden, wie hoch die Dunkelziffer ist. In folgenden Kreisen in Deutschland ist die zweite Welle derzeit besonders gravierend:
All die kleinen und großen Ausbrüche zusammen machen die Coronapandemie in Deutschland aus. In ihrem Zusammenspiel zeigt sich eine Tendenz, die das Robert Koch-Institut in seinem Reproduktionsfaktor berechnet, dem R-Wert. Diese Zahl besagt, wie viele weitere Personen von einem mit dem Coronavirus infizierten Menschen - rein rechnerisch - neu angesteckt werden.
In Städten kommt man regelmäßig in Kontakten mit Fremden – in der U-Bahn, im vollen Supermarkt, auf der Straße. Und es waren die Bilder von Megastädten wie Wuhan, Peking und New York, die am Anfang die Wahrnehmung der Pandemie prägten. Ist es also eine Pandemie der Städte? Vergleicht man die deutschen Kreise danach, ob es sich um ländliche Gebiete oder Städte handelt, zeichnet sich ein differenzierteres Bild: Am Anfang gab es besonders in ländlichen Gebieten besonders viele neue Fälle. Doch diese Dynamik ändert sich anscheinend im Verlauf der Zeit.
Obgleich auch in den östlichen Bundesländern die Fallzahlen steigen, große Hotspots gibt es selten. Auch wenn im gesamten Land die Fallzahlen steigen, ist das Coronavirus ungleich in Deutschland verteilt. Während einige Landkreise ein bis zwei Neuinfektionen täglich melden, sind es in anderen Regionen zehnmal so viele. Ein Blick auf die Daten zeigt: Der Osten steht im Vergleich zum Westen bislang besser da.
Wissenschaftlich belegte Gründe für diese Entwicklung gibt es bisher keine. Doch Hypothesen gibt es. Eine davon bezieht sich auf die Tuberkulose-Impfpflicht, die in der DDR galt. Denn Lebendimpfstoffe wie die BCG-Impfung schützen auch allgemein gegen Bakterien und Viren und nicht nur gegen den eigentlichen Erreger, gegen den geimpft wurde. Aber auch das RKI machte deutlich: Das ist bisher nur eine Hypothese.
[Mehr interaktive Datenanalysen. Mehr visueller Journalismus. Mehr Langzeitrecherchen. Unterstützen Sie unabhängigen Journalismus! Mit Tagesspiegel Plus lesen Sie auch zukünftig alle Inhalte. Jetzt 30 Tage kostenlos testen.]
Blickt man auf die demografische Struktur im Osten, so könnte sie ebenfalls ein Grund für die geringere Verbreitung des Coronavirus sein. Die östlichen Bundesländer sind weniger dicht besiedelt. Es gibt wenig Großstädte, wenig internationale Flughäfen. Experten zufolge sind es mehrere Faktoren, die hier zusammenspielen könnten. Eine regionalere Wirtschaftsstruktur, weniger Reisen, andere soziale Netzwerkstrukturen – all das kann dazu beitragen, dass das Virus sich langsamer verbreitet.
Es war die obere Mittelklasse, die das Coronavirus nach Deutschland brachte: Vor allem Skiurlauber infizierten sich in Österreich. Einige Monate später, als die erste Infektionswelle abflachte und Kontaktbeschränkungen gelockert wurden, stellte Berlin-Neukölln mehrere Wohnblocks unter Quarantäne, in denen das Virus grassierte. An diesem Tag im Juni sah Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) das Virus „vom Skiclub in der Mietskaserne angekommen“. Damit meinte er wohl, dass Corona nun auch die Ärmsten unter den Deutschen erreicht hatte. Hikel implizierte damit auch: Das Virus könnte es unter ihnen besonders leicht haben, sich zu verbreiten.
Intuitiv erscheint dieser Gedanke logisch. Menschen mit weniger Geld leben öfter auf engerem Raum, zumindest in Städten. Und viele schlechter bezahlte Jobs – etwa im Gast-, Dienstleistungs- und produzierenden Gewerbe – lassen sich nicht aus dem Homeoffice erledigen. Für Menschen mit wenig Geld ist es deshalb schwieriger, Abstand zu anderen zu halten.
Studien zum Verhältnis zwischen Einkommen und der Verbreitung des Virus in Deutschland gibt es bisher keine. Beobachtbar ist bislang lediglich, dass Landkreise mit höherem Durchschnittseinkommen durchschnittlich mehr Fälle verzeichnen. Epidemiologen zufolge könnte das ebenfalls mit Reisen zusammenhängen. Genauso könnte es aber sein, dass dort anders getestet wird oder andere Gruppen sich testen lassen.
„Gerade zu Beginn der Pandemie und auch jetzt wieder hat das Reisen eine wichtige Rolle in der Verbreitung gespielt, es kann also einer der Faktoren sein“, sagt Hajo Zeeb vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie. Menschen aus einkommensschwächeren Landkreisen würden zwar auch reisen, im Mittel allerdings etwas weniger „und dann auch möglicherweise nicht im gleichen Maße in Länder mit erhöhten Risiken für eine Infektion“. Abgesehen von der Reisefrequenz könnten laut Zeeb weitere Unterschiede eine Rolle spielen – etwa, dass in wohlhabenden Landkreisen mehr Industrie ansässig sei, dass sich dort mehr Transportzentren befinden und möglicherweise auch höhere Bevölkerungsdichten. Es könnten also oft mehrere Faktoren sein, die die Verbreitung beschleunigen. Ebenfalls möglich wäre es allerdings, dass diese Korrelation ein Zufall ist und andere Faktoren viel ausschlaggebender sind als das Einkommen.
Haben Reiserückkehrer etwas mit steigenden Infektionszahlen zu tun? Eindeutig sagen lässt sich das bis heute nicht, es gibt aber Hinweise, dass die Schulferien mehr Ansteckungen zur Folge hatten: Alle Bundesländer außer Berlin meldeten in den letzten Ferienwochen mehr Infizierte als jeweils in den Wochen vor den Ferien und in den ersten Ferienwochen, wie die Infektionszahlen in Hessen beispielhaft zeigen.
Nur Berlin war – wie immer – ein Sonderfall. In der Hauptstadt gab es kurz vor den Ferien mehrere Corona-Ausbrüche in Mietskasernen. So stiegen dort die Neuinfektionen vor den Ferien besonders stark an.
In der zweiten Ferienhälfte stiegen die Neuinfektionen wieder an – wie in den anderen Bundesländern. Der Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) zufolge lag der Anteil der Reiserückkehrer an allen Positiv-Getetesten zeitweise bei 50 Prozent aller neuen Fälle. Ende August nach Ferienende seien es nur noch 34 Prozent gewesen.
Das passt dazu, dass zahlreiche Landkreise zweitweise viele neue Fälle bei Auslandsrückkehrern meldeten. Das RKI führte in ganz Deutschland 37 Prozent aller Ende August gemeldeten Fälle auf sie zurück, in der Woche davor waren es 42 Prozent. Ferienreisen könnten die Zahlen also beeinflusst haben. Das wäre auch plausibel, schließlich sind die Sommerferien Hauptreisezeit. Und wer reist, trifft auf mehr Menschen.
Wochen später sind es nicht mehr die Reiserückkehrer, die Fallzahlen steigen lassen. Allerdings hat die innerdeutsche Mobilität inzwischen wieder das Vor-Corona-Niveau erreicht. Nun sind es wieder breit gestreute Ausbrüche, deren Ursprung nicht immer eindeutig festzustellen ist.
In den kommenden Monaten werden wir in unregelmäßigen Abständen neue Analysen hinzufügen und weiter nach Mustern suchen. Vor allem aber suchen wir nach Gründen, warum manche Regionen bislang so anders von Corona betroffen sind als andere. Wenn Sie selbst Analysen dazu haben, freuen wir uns über Ihre Ergebnisse.