Seit einem Monat schon gehen die Menschen in Belarus auf die Straße. Sie protestieren gegen Machthaber Alexander Lukaschenko und eine offensichtlich manipulierte Wahl. Tausende und Zehntausende ziehen mitten in der Coronapandemie dicht an dicht durch die Hauptstadt Minsk. Nur wenige Demonstranten tragen Masken. Auffällig oft ziehen sich stattdessen Sicherheitskräfte in zivil einen Schutz über Mund und Nase – wohl nicht unbedingt wegen der Infektionsgefahr, sondern auch, damit sie beim Durchgreifen gegen die Protestierenden unerkannt bleiben. Verbreiten also die Demonstranten das Coronavirus, während Lukaschenkos Handlanger sich schützen?
Die Daten zeigen: Zwar stiegen mit den Protesten nach der Wahl die Neuninfektionen. Zu Beginn der Pandemie haben sich aber wesentlich mehr Menschen mit dem Virus infiziert.
Dass die Neuinfektionen wieder zulegen, begründet Lukaschenko mit den Demonstrationen gegen ihn. Im Juli räumte der Machthaber ein, selbst an Covid-19 erkrankt gewesen zu sein, er blieb aber symptomfrei.
Belarus hat nie strenge Maßnahmen gegen die Pandemie ergriffen. Anfangs empfahl der Präsident scherzend Wodka gegen das Virus und verkündete, niemand werde wegen Covid-19 sterben. Den ersten bestätigten Fall von Covid-19 gab es Ende Februar. Auch wenn die absoluten Zahlen der bestätigten Fälle niedrig erscheinen: Rechnet man die insgesamt mehr als 72.300 gemeldeten Infektionen auf die 9,4 Millionen Einwohner um, so waren in Weißrussland mehr als doppelt so viele Menschen pro 100.000 Einwohner mit dem Virus infiziert wie in Deutschland.
Dabei wird relativ viel getestet. Insgesamt 1,5 Millionen Personen sind bis heute auf Sars-CoV-2 getestet worden. Dem Oxford-Projekt „Our World in Data“” zufolge gibt es in Belarus ähnlich viele Tests pro 100.000 Einwohner wie in Deutschland.
Der lockere Umgang mit dem Virus, insbesondere das Gefühl, der Staat schütze seine Bürger nicht ausreichend, trug auch zum Frust bei, der nun die Menschen auf die Straßen treibt, erklärt Olga Dryndova, Belarus-Expertin der Forschungsstelle Osteuropa der Universität Bremen. Lukaschenko steht bis heute zu seinem Umgang mit dem Virus, der in Europa nirgendwo sonst derart locker ist. Zwar führte die Regierung vereinzelt Maßnahmen ein, darunter eine Pflicht zur Selbstisolation für Einreisende und Infizierte sowie verlängerte Schulferien im Frühjahr. Ansonsten lief das öffentliche Leben uneingeschränkt weiter, einen Lockdown gab es nicht.
Im Gegenteil: Ende April beteiligten sich mehr als zwei Millionen Belarussen am sogenannten Subbotnik zur Verschönerung von Städten und Dörfern. Anfang Mai nahmen 20.000 an der Militärparade zum Ende des Zweiten Weltkriegs teil. Als anschließend die Infektionen stiegen – offiziell um fast 1000 pro Tag – , kritisierten unabhängige Beobachter, das Gesundheitsministerium beziffere die Fälle erheblich niedriger als sie tatsächlich seien.
Wer Wahlen fälscht, könne natürlich auch andere Zahlen manipulieren, schreibt Piotr Rudkouski vom Belarussischen Institut für Strategische Studien, einem unabhängigen Thinktank in Minsk, in einer Analyse. Eindeutig bestätigen lasse sich dies allerdings nicht. Für die Wahrhaftigkeit offizieller Angaben spreche indes, dass Seuchenschutzbehörden und medizinische Infrastruktur relativ gut aufgestellt seien. Rudkouski hält allerdings eine „ideologische Korrektur der Statistik“ für möglich. Angaben oppositioneller Medien, denen zufolge Zahl der Corona-Toten um ein Fünf- bis Zehnfaches nach unten manipuliert wurde, glaubt er dagegen nicht.
Auffällig ist: Obwohl das Land mehr als doppelt so viele Fälle pro 100.000 Einwohner hat, sind wesentlich weniger Menschen an dem Virus gestorben.
Belarus werde das Virus nicht los, solange es Proteste gebe, behauptet der Machthaber. Die Menschen gehen trotzdem weiter auf die Straße. „Eine Erkrankung erscheint ihnen nicht so wichtig, weil sie andere Sorgen haben“, sagt Olga Dryndova. „Die politische Gefahr ist aus ihrer Sicht größer als die Bedrohung durch das Virus.“