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Länderanalyse: Corona in der Schweiz

Wie Schweizer Sorglosigkeit die Fallzahlen steigen lässt

Im südlichen Nachbarland ist vieles möglich, was in Deutschland verboten bleibt. Wegen steigender Neuinfektionen rudern viele Regionen zurück.
Im südlichen Nachbarland ist vieles möglich, was in Deutschland verboten bleibt. Wegen steigender Neuinfektionen rudern viele Regionen zurück.
Bergbesucher: Im Juli wurde es am Furka-Pass wieder voll. Schweizer Hotels waren stets geöffnet. Foto: Manuel Geisser / imago
Uferwanderung: Luzerner Restaurants dürfen bis zu 100 Gäste bewirten – ohne Pflichtabstand. Foto: Manuel Geisser / imago

Das Virus ist noch da. So heißt die Kampagne des Schweizer Bundesamts für Gesundheit, die Ende Juli gestartet wurde. Überall in den Städten hängen Plakate, die die Bevölkerung daran erinnern soll, dass die Coronazeit nicht vorbei ist – nur weil die Beschränkungen aufgehoben wurden.

Die Bilder aus dem Land vermitteln einen anderen Eindruck. Volle Restaurants, Touristen aus ganz Europa strömen in die Berge. Die bestehenden Beschränkungen zur Eindämmung des Virus sind schwächer als in Deutschland. Ist Corona in der Schweiz vorbei?

Blickt man auf die aktuelle Entwicklung, zeigt sich: Das Gegenteil ist der Fall.

Auch in dem Alpenland steigen die Neuinfektionen an. Rechnet man die Fälle auf die 8,5 Millionen Einwohner um, zeigt sich, dass es pro Kopf mehr Neuinfektionen gibt als in Deutschland. Auch wenn die Zahlen im weltweiten Vergleich niedrig sind – in den USA wurden zuletzt etwa dreimal so viele Neuinfektionen pro 100.000 Menschen täglich gemeldet wie in der Schweiz – meldet das deutsche Nachbarland so viele Corona-Neuansteckungen wie seit April nicht mehr.

Dabei hatten Deutschland und die Schweiz zu Beginn der Pandemie eine ähnliche Entwicklung durchlaufen. Auf eine erste Welle im Frühjahr folgte eine Phase der Eindämmung mit Kontaktbeschränkungen. Und in beiden Ländern steigen die Neuinfektionen wieder an, allerdings langsamer als in der ersten Welle.

Die Schweiz ist stärker betroffen

Die Zahlen zeigen: Hierzulande waren die Fälle pro Kopf im ganzen Pandemiezeitraum seltener als in der Schweiz. Hat das damit zu tun, dass in beiden Ländern unterschiedlich oft getestet wird? Nein, auch die aktuellen Testzahlen deuten darauf hin, dass es in der Schweiz ernster aussieht als in Deutschland. Hier gibt es etwa 1,5 Coronatests täglich pro 1000 Einwohner – in der Schweiz sind es um mehr als ein Drittel weniger, wie aus dem Vergleich des Oxforder Projekts „Our World In Data“ hervorgeht. Weniger Tests also und trotzdem eine höhere Fallzahl pro Bevölkerung.

Der Blick auf die Gesamtzahl der Fälle zeigt, dass es in der Schweiz pro Kopf etwa 1,7-mal mehr Infizierte gibt als in Deutschland.

Wo stecken sich die Menschen an? Den Behörden war in dieser Frage zuletzt ein peinlicher Fehler passiert: Sie hatten mitgeteilt, dass die Infektionen oft in Nachtclubs stattfänden. Später musste das Gesundheitsamt sich korrigieren. Tatsächlich war über ein Viertel aller Neuinfektionen in der Familie passiert. Nicht einmal vier Prozent der Ansteckungen ließen sich auf Clubs oder Gastronomie zurückführen. Aber die Auswertung zeigt auch, dass oft keine Kette nachverfolgt werden kann: Bei vier von zehn Ansteckungen fehlt dem Amt die Information, wie sie erfolgte. Umso schwerer ist es, die Ausbreitung des Virus einzudämmen.

Lockdown light

Die Schweizer Maßnahmen erscheinen lasch gegenüber den deutschen Bestimmungen. Hotels mussten in dem Reiseland nicht schließen. Während Clubs in Berlin weiter geschlossen bleiben, durften sie in Genf oder Zürich im Sommer wieder öffnen. Und auch Restaurants hatten weniger Auflagen bekommen als deutsche Gastronomen.

In Berliner Restaurants muss offiziell ein Mindestabstand zwischen den Tischen eingehalten werden, es gilt die Maskenpflicht. Die Schweiz ist deutlich freigiebiger. Landesweit ist der Mindestabstand bloße Empfehlung, lokal gibt es weitere Beschränkungen: Luzern beispielsweise korrigierte die Höchstkapazität in Restaurants im Juli von 300 nach unten: auf immer noch 100 Personen.

Der Tag der Lockerungen

Ein wichtiger Stichtag in der Schweizer Corona-Bekämpfung war der 6. Juni. An dem Datum wurden viele der Beschränkungen aus der ersten Viruswelle gelockert: Schulen gingen wieder in den Präsenzbetrieb. Statt wie zuvor nur fünf Menschen durften sich wieder bis zu 30 treffen. Viele Kultur- und Freizeiteinrichtungen öffneten unter Auflagen.

Die Infektionszahlen steigen etwa ab dem 20. Juni wieder an. Ein Zusammenhang mit den Lockerungen von zwei Wochen zuvor ist deshalb sehr naheliegend. Er ist auch kaum überraschend: Das Virus ist genauso ansteckend wie eh und je. Trotzdem ist der erneute Anstieg in der Schweiz – wie auch hierzulande – langsamer als in der ersten Phase im Frühjahr.

Wie die deutschen Behörden setzte auch das südliche Nachbarland zuletzt auf eine Maskenpflicht, allerdings nur in öffentlichen Verkehrsmitteln. Sie gilt seit dem 6. Juli landesweit in Verkehrsmitteln. In anderen Bereichen des öffentlichen Lebens rudert man jetzt mit Lockerungen zurück. Genf hat Anfang August seine Clubs wieder geschlossen. In Zürich sowie in sechs weiteren Kantonen gilt seit kurzem eine Maskenpflicht beim Einkaufen.

Es gibt auch gute Zeichen: Obwohl es seit über einem Monat steigenden Infektionszahlen gibt, bleiben die Todeszahlen auch in der Schweiz niedrig.

Auch die vergleichsweise lockere Schweizer Strategie hat demnach bisher nicht zu einem Kontrollverlust geführt.

Trotzdem haben die steigenden Fallzahlen Folgen für das Land. Für belgische Reisende gilt die Hälfte der Kantone als Risikogebiet. Und seit Donnerstag müssen Touristen aus der Schweiz in Großbritannien in Quarantäne. Auf der deutschen Liste der Risikoländer würde das Nachbarland landen, sollte es in den letzten sieben Tagen mehr als 50 Neuinfizierte pro 100.000 Einwohner gegeben haben. Am Freitag waren es im ganzen Land 23,2. Noch steht dem Wanderurlaub nichts im Wege.

Die Autoren

Jonas Bickelmann
Text & Recherche
Eric Beltermann
Datenvisualisierung
Veröffentlicht am 28. August 2020.