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Länderkolumne: Corona in Großbritannien

Wie Großbritannien mit Ansage in die zweite Welle rutscht

Der Lockdown hat Großbritannien schwer getroffen. Seit den Lockerungen im Juli steigen auch die Infektionszahlen wieder – und setzen die Regierung doppelt unter Druck.
Der Lockdown hat Großbritannien schwer getroffen. Seit den Lockerungen im Juli steigen auch die Infektionszahlen wieder – und setzen die Regierung doppelt unter Druck.
Droht ein neuer Lockdown? Premierminister Boris Johnson gibt sich kämpferisch. Foto: Stefan Rousseau/POOL/AFP
Volle Kneipen in London. Erst Anfang Juli durften Pubs und Restaurants wieder öffnen Foto: Matt Crossick/Empics

Die britische Regierung sah sich in der Pandemie schon auf einem guten Weg. Selbst in der Erforschung eines Impfstoffes gegen das Coronavirus spielte man scheinbar vorne mit, immerhin wollte der Pharmakonzern AstraZeneca bis Jahresende ein sicheres Produkt auf den Markt bringen.

Dann stoppte der Konzern Mitte der Woche die klinische Studie, nachdem ein Proband schwer erkrankte – das ist nicht nur ein Rückschlag für das britisch-schwedische Unternehmen. Auch für Großbritannien ist es in der Coronakrise ein Dämpfer, denn die Fallzahlen steigen derzeit drastisch. Droht dem Land eine zweite Pandemiewelle?

In den vergangenen Tagen meldeten die britischen Behörden fast 3000 Neuinfektionen pro Tag. Das ist der höchste Stand seit Ende Mai, wie die Daten zeigen.

Damit erreichte der Anstieg innerhalb von sieben Tagen zuletzt wieder die kritische Schwelle von 20 Fällen pro 100.000 Einwohnern. Pro Tag werden rund vier Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner gemeldet – doppelt so viele wie in Deutschland.

Die Regierung hatte den Anstieg zuletzt häufig mit der hohen Zahl der Tests erklärt, die mittlerweile durchgeführt werden, immerhin 175.000 am Tag. Und werde mehr getestet, würden auch mehr Infektionen registriert, so die Begründung. Doch nun sorgen sich Experten vor dem Zusammenbruch des chronisch unterfinanzierten Gesundheitssystems, wenn erst die winterliche Grippewelle hinzukommt.

Wirtschaftliche Einbrüche trotz spätem Lockdown

Anfang Juli sah es so aus, als hätte Großbritannien das Infektionsgeschehen weitestgehend unter Kontrolle. Die Zahl der Neuinfektionen war ab Anfang Mai kontinuierlich gesunken. Wurden in den Hochzeiten der ersten Pandemiewelle, im April und Mai, täglich rund 5000 neue Infektionen gemeldet, waren es Anfang Juli gerade noch 500. Die gute Entwicklung war hart erkauft: Die Regierung um Premierminister Boris Johnson hat die Pandemie lange unterschätzt, verhängte aber im März einen harten Lockdown, untersagte Großveranstaltungen, schloss Pubs und Restaurants – der Dienstleistungssektor kam zum Erliegen. Die Wirtschaft brach im zweiten Quartal um 20 Prozent ein.

Die Maßnahmen dauerten auch dann noch an, als die Regeln in anderen Ländern wie Deutschland schon längst wieder gelockert wurden – die Quittung für das unentschlossene Handeln zuvor.

So kam es auch, dass sich in Großbritannien pro Einwohner wesentlich mehr Menschen infizierten als in Deutschland.

Nun ist der Druck auf die Regierung groß, die richtigen Maßnahmen für den wirtschaftlichen Einbruch zu ergreifen. Johnson hatte kürzlich die Menschen in England sogar dazu aufgerufen, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren. Seit Anfang Juli in England umfangreiche Lockerungen gelten, nach mehreren Monaten Restaurants, Pubs und Cafés, ebenso Kinos und Museen wieder geöffnet haben, steigen auch die Fallzahlen wieder. In anderen europäischen Staaten wurde dies oft mit der Wiedereröffnung in Verbindung gebracht. Die Regierungen in Wales, Schottland und Nordirland reagierten stets vorsichtiger.

Johnson verschärft die Kontaktbeschränkungen

Und dann ist da die Öffnung der Schulen Anfang September. „Jetzt ist es Zeit, die Kinder zurück in die Schule zu bringen“, schrieb Johnson vor wenigen Tagen auf Twitter. Ein Blick in andere Länder lässt erahnen, dass auch der Schulstart die Infektionszahlen steigen lässt.

Die Regierung selbst ist über den erneuten Anstieg der Corona-Fälle so alarmiert, dass sie nun die Regeln für soziale Kontakte in England verschärft. Ab Montag sind nur noch Treffen von bis zu sechs Menschen erlaubt. Das Verbot gilt sowohl für Außen- als auch Innenräume, nicht aber für Schulen, Arbeitsplätze, Hochzeiten und Beerdigungen. Bei Verstößen droht eine saftige Geldstrafe. „Wir müssen jetzt handeln, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen“, sagte Premierminister Boris Johnson, der im Frühjahr selbst mit einem schweren Covid-19-Verlauf im Krankenhaus lag. Eine neue Informationskampagne zu Hygienemaßnahmen in Pandemiezeiten ist auch geplant. Wieder reagiert die Regierung spät.

Großbritannien zählt die meisten Toten in Europa

Einzig positiv ist die Entwicklung der Zahl von Coronavirus-Toten in den vergangenen Wochen. Großbritannien zählte bislang rund 41.683 Tote in Zusammenhang mit dem Virus – in keinem anderen Land in Europa starben mehr Menschen virusbedingt. Doch trotz des rasanten Anstiegs der Neuinfektionen steigt die Zahl der Todesfälle – ähnlich wie in Deutschland – derzeit nur langsam an.

Anfang Juli waren es gerade einmal 1000 Tote weniger als heute. Der Grund: Derzeit stecken sich vor allem junge Menschen mit dem Virus an, bei denen Covid-19 meist glimpflicher verläuft als bei Älteren. Die Regierung sorgt sich aber vor einem neuen Übergreifen der Pandemie auf ältere Kohorten. „Töte nicht deine Oma, indem du dir das Coronavirus einfängst und sie ansteckst“, sagte Gesundheitsminister Matt Hancock in der BBC und appellierte an die Briten, Abstands- und Hygieneregeln weiter einzuhalten und sich nicht in größeren Gruppen zu versammeln.

Die Autoren

Matthias Jauch
Text & Recherche
Eric Beltermann
Datenvisualisierung
Veröffentlicht am 11. September 2020.
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