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Länderkolumne: Corona in Ungarn

Warum Nationalismus nicht gegen die Pandemie hilft

Viktor Orbán nutzt Corona für seine ideologische Agenda und den rechten Umbau Ungarns. Erst schienen ihm die Zahlen recht zu geben. Aber jetzt geht die Strategie massiv nach hinten los.
Viktor Orbán nutzt Corona für seine ideologischen Ziele. Erst schienen ihm die Zahlen recht zu geben. Aber jetzt geht die Strategie massiv nach hinten los.
Trotz massiv steigender Infektionen: Fußballfans am 24. September im Budapester Stadion. Foto: imago images/ActionPictures
Die Grenzen wurden am 1. September wieder für die meisten ausländischen Bürger geschlossen Foto: imago images/Action Pictures

Grenzen dicht. Das war die schnelle Reaktion von Ungarn auf den Ausbruch des Coronavirus. Und Ministerpräsident Viktor Orbán ging noch weiter: Mit der Bekämpfung der Pandemie legitimierte der Rechtspopulist auch die Ausdehnung seiner Macht. Schon 2014 hatte Orbán angekündigt, Ungarn zu einem „illiberalen Staat“ ausbauen zu wollen. Dank der Ende März erlassenen Notstandsgesetzgebung konnte seine Fidesz-Regierung unbegrenzt Dekrete erlassen, solange sie mit der Pandemie im Zusammenhang standen. Eine sehr dehnbare Begrenzung. Zwar wurde der Notstand Ende Juni vom Parlament einstimmig aufgehoben. Aber sollte es erneut zu einem „medizinischen Krisennotstand“ kommen, könnte der Umbau per Dekret wieder ganz einfach sein.

Tatsächlich sah es über einen langen Zeitraum so aus, als könne Viktor Orbán die Pandemie mit seiner autoritären, populistischen Strategie wirksamer bekämpfen als Deutschland.

Grenzschließungen und Lockdown zeigten Erfolg: Die ohnehin eher niedrige Kurve flachte ab, Ungarn meisterte die erste Welle gut. Bis Ende August lag die Zahl der täglichen Neuinfizierten immer im niedrigen einstelligen Bereich pro 100.000 Einwohner. Das sind im internationalen Vergleich erstaunlich niedrige Werte. Das änderte sich jedoch schlagartig.

Nicht, dass die Regierung Orbán die Pandemie gebraucht hätte, um seine Macht zu festigen: Schon seit zehn Jahren regiert Fidesz mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament und baut dabei den ungarischen Rechtsstaat immer weiter zurück. Aber die Maßnahmen, die wegen Corona erlassen wurden, schärfen den Blick, auch ausländischer Beobachter, auf die politischen Verhältnisse im mitteleuropäischen Land.

Die populistische Strategie

Vergleicht man die Zahlen in Ungarn mit anderen populistischen Regimen in EU-Mitgliedsstaaten, wie Tschechien, entsteht leicht der Eindruck, Abschottung und Nationalismus seien wirksame Mittel gegen die Pandemie. Doch halten sich weder Virus noch Menschen lange an strikte Grenzregimes.

Ungarn ist zu sehr vom europäischen Binnenmarkt abhängig, um einen strikten Lockdown wirtschaftlich lange durchzuhalten. Nachbar Tschechien hat aktuell mit einer ähnlichen Lage zu kämpfen: Nachdem die Zahlen erst niedrig blieben, schnellen sie jetzt massiv in die Höhe. Die Infektionen pro Kopf sind aber in Tschechien fast doppelt so hoch. In Österreich fiel die erste Welle bisher viel schlimmer aus als den östlichen Nachbarländern – auch wenn die Zahlen wieder steigen. In Deutschland hat es bisher mehr bestätigte Fälle pro 100.000 Einwohner gegeben als in Ungarn. Das könnte sich aber angesichts der aktuellen Dynamik schon bald ändern.

So hat Ungarn seinen Vorsprung verspielt

Während der Tourismussaison im Sommer wurde wieder gelockert. Zusätzlich wurde Ungarn groß als Reiseziel beworben – auch in Berlin. Seine Landsleute versuchte Orbán mit dem Leitspruch „mehr Balaton, weniger Adria“, von unnötigen Fernreisen abzuhalten, um so das Virus zu „bremsen“ und nicht aus dem Ausland zu „importieren“. Dennoch galt Kroatien, im Gegensatz zu den Vorgaben des RKI hierzulande, in Ungarn nicht als Risikogebiet. Zu beliebt ist das Land als Urlaubsziel bei den Ungarn. Und spätestens als mitten in der Belarus-Krise Bilder von Außenminister Péter Szíjjártó beim Sonnenbaden auf einer Yacht in der Adria auftauchten, war klar, dass auch in der Coronakrise manche gleicher sind als andere.

Die willkürliche Prioritätensetzung der Regierung zeigte sich auch in dieser Woche. Am Donnerstagabend war Budapest Austragungsort des ersten UEFA-Spiels vor Zuschauern seit fast sieben Monaten. Europa-League-Meister Sevilla traf auf Champions-League-Sieger Bayern München im Supercup-Finale. Insgesamt durften für das rund 67.000 Plätze fassende Stadion nur 20.000 Tickets verkauft werden. Jeweils 3.000 gingen an Fans aus Spanien und Deutschland, wobei aus Deutschland nur rund 1300 erwartet wurden, aus Spanien sogar nur 50.

Zweifelhafte Prioritäten

Für die Fans aus dem Ausland galten strenge Auflagen: Fans mussten zwei negative PCR-Tests innerhalb von fünf Tagen aufweisen. Gergely Karácsony, Budapests Bürgermeister, und Orbáns linker Gegenspieler pochte noch eine Woche vor der Austragung darauf, dass das Spiel ohne Fans stattfinden solle. Denn hier trafen nicht nur Tausende Menschen aus unterschiedlichsten Teilen Europas aufeinander und das mitten in einer zweiten Welle. Zu Gast waren auch 500 Mitarbeiter des Gesundheitswesens, die ein kostenloses Ticket zum Fußballevent erhalten hatten.

Das könnte Folgen haben, auch angesichts der Entwicklung der Todesfälle in dem Land.

Denn die Zahl der Toten steigt. Am Freitagmorgen zählte Ungarn über 900 Neuinfektionen und neun Todesfälle. Das Ministerium für Innovation und Technologie erwartet, dass die Zahl der Todesfälle Anfang Oktober noch stärker ansteigt. Dabei ist das ungarische Gesundheitswesen schon für den alltäglichen Betrieb mangelhaft ausgestattet und leidet unter der massiven Abwanderung von Ärzten und Pflegepersonal ins Ausland. Die großen Budapester Krankenhäuser bemängeln, dass sie nicht einmal genügend Personal für die Bedienung der Beatmungsgeräte haben.

Die Pandemie zeigt wie durch ein Brennglas, wo die rechte Regierung Orbán Prioritäten setzt: Weniger bei Krankenhäusern als bei vollen Fußballstadien.

Die Autoren

Judith Langowski
Text & Recherche
Jonas Bickelmann
Text & Recherche
Eric Beltermann
Datenvisualisierung
Veröffentlicht am 25. September 2020.