Sie wachsen, sie werden voller, sie werden teurer: Das haben europäische Hauptstädte gemeinsam. Aber das ist nur die oberflächliche Wahrheit. Die Zusammensetzung der jeweiligen Bevölkerung variiert stark – und ändert sich schnell. Während die meisten jünger werden, vergreisen einige geradezu.
Besonders der Anteil der 25- bis 30-Jährigen steigt in vielen Metropolen. In Kopenhagen ist er extrem hoch, in Stockholm ebenso. In Berlin und Warschau hingegen gab es mehrere „Wellen” an jungem Zuzug. Aber die Zahl der Älteren und Geburten in diesen Städten ist wiederum völlig unterschiedlich. Und es gibt Geschlechter-Unterschiede: Je nach Altersgruppe gibt es teils mehr Männer als Frauen in einigen Städten – oder umgekehrt.
All das hat Folgen für Politik und die Stadtgesellschaft, sei es für Kita-Plätze, Altersversorgung oder Dating in derselben Altersgruppe. Gemeinsam mit anderen europäischen Journalist*innen in unserer Gemeinschaftsrecherche haben wir die Altersverteilung unserer Hauptstädte recherchiert. Niemand hatte diese Daten zuvor sauber gesammelt. Hier die Ergebnisse.
Wie sich eine Stadtbevölkerung zusammensetzt, hänge besonders von der Bedeutung der Stadt innerhalb des Landes und seiner Infrastruktur ab, sagt Dr. Philipp Gareis, Verantwortlicher für Stadt- und Regionalentwicklung in Europa des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR).
London sei ein besonderer Fall, alles in England zentriere sich um die Stadt. Hochrangige Universitäten wie das University College London, die London School of Economics oder das Imperial College, aber auch Startups und nahezu die gesamte englische Verwaltung. Sie alle ziehen junge Menschen an: Es ist die durchschnittlich jüngste Stadt unter den europäischen Hauptstädten.
Das föderale Deutschland ist hingegen weiterhin dezentral. „Wir haben sehr viele Städte, wo man theoretisch einen guten ersten Job finden würde. In England ist das anders“, erklärt Gareis. Ähnlich in Paris, das im Ranking der jüngsten Hauptstädte Europas auf Platz drei liegt. Allerdings ist die Altersverteilung hier gleichmäßiger als in London oder Kopenhagen. In Berlin hingegen gibt es einen klaren Ausschlag durch viele zusätzliche Studierende in den vergangenen zehn Jahren, aber auch eine große Bevölkerungsgruppe aus der „Gründungszeit“ des jetzigen Berlin-Mythos. Die jetzt 50- bis 60-Jährigen waren schließlich vor 30 Jahren 20 bis 30. Das waren die Nachwende-90er.
Ebenfalls deutlich ist der größere Anteil älterer Frauen in Berlin. Hier ist nicht nur sichtbar, dass Frauen statistisch betrachtet länger leben als Männer, sondern auch die Auswirkungen der Kriegsgeneration.
Wie sehr die Anziehungskraft der Hauptstädte im Zusammenspiel mit den anderen Städten in einer Region zusammenhängt, zeigt die nächste Karte. Sie zeigt die Zunahme junger Menschen in circa 800 europäischen Großstädten. Fast überall nimmt der Anteil in den Hauptstädten stärker zu als in den umliegenden Städten.
Falls Sie in der Karte oben umgeschaltet haben, sehen Sie auch, dass andere Städte ein weiteres Problem haben: Die alte Bevölkerung nimmt stark zu, die jüngere aber nicht. Das stellt Städte vor Herausforderungen bei Steuereinnahmen, kultureller und wirtschaftlicher Entwicklung.
Die Hauptstadt Italiens ist europäische Hauptstadt mit dem höchsten Durchschnittsalter. „Rom hat als Zentrum nicht die Bedeutung, die andere Hauptstädte haben“, sagt Gareis. Es sei eher administratives Zentrum Italiens und biete daher keinen sonderlich attraktiven Arbeitsmarkt für Anfang-20-Jährige.
Der Einfluss des Arbeitsmarktes sei in ganz Italien deutlich zu sehen, sagt Gareis. Es ziehe viele in den Norden, nach Mailand, Parma, Bologna und Turin, wo der Arbeitsmarkt besser sei als im Süden. Die Menschen würden bereits zum Studium in den Norden wandern, dort Familien gründen. Die junge Bevölkerung wächst. Im Süden nimmt sie ab. Die Fertilitätsrate in Italien sei eine der geringsten in Europa, sagt Gareis. Nur 1,24 Kinder bekomme jede gebärfähige Frau im Schnitt im Jahr 2020 in Italien – der europäische Durchschnitt lag laut Eurostat bei 1,5.
Es gibt diesen Effekt aber nicht nur innerhalb der Länder, sondern zunehmend grenzüberschreitend. Im Osten Europas ist er besonders deutlich. Die Zahl der jungen Bevölkerung nimmt ab, der Zeitpunkt der Abwanderung sei jedoch ein anderer, meint Gareis. „Die Leute machen ihre Ausbildung vor Ort und kommen dann als sehr gut ausgebildete Fachkräfte zu uns. Das kennt man zum Beispiel im Bereich der Medizin,“ sagt er. Ein klassisches Beispiel für „Braindrain“, also die Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften ins Ausland.
Die Sprachbarriere könnte ein Grund sein, warum sie erst nach ihrer Ausbildung fortziehen. Länder, deren Universitätssystem sehr internationalisiert ist und viele englischsprachige Angebote aufweist, hätten es leichter, internationale Studierende anzuziehen. „Dazu gehören die Benelux-Staaten und Skandinavien. In Deutschland hingegen hat man es als nicht deutsch sprechender Mensch in der Administration und an der Uni sehr, sehr schwer,“ sagt Gareis.
Was bedeutet die Zunahme an junger Bevölkerung für die Regionen? „Wenn es dort bereits eine Universität gibt, ist es wahrscheinlicher, dass sich diese Menschen später entscheiden, ein Studium aufzunehmen,“ erklärt Gareis. Ähnlich wie Akademikerkinder häufiger ein Studium beginnen, weil sie einen engeren Kontakt zum akademischen Leben haben, ist dies auch der Fall, wenn Kinder in einer Universitätsstadt leben.
Größte Konkurrenten der Hochschulen vor Ort sind die europäischen Metropolen mit Universitäten - Paris, London, Berlin -, aber auch typische Studierendenstädte wie Heidelberg oder Pisa. Deutsche Universitäten könnten etwas von den Universitäten im Silicon Valley lernen, meint Gareis. Forschergruppen aus Stanford führen deren Erfolg darauf zurück, dass Universitäten sich mit den Unternehmen und der Politik vor Ort vernetzen, also mit den potentiellen Arbeitgebern und Auftraggebern. Dadurch blieben Studierende langfristig.
Während in Europa viel Mobilität der jungen Bevölkerung zu beobachten ist, nimmt die alte Bevölkerung fast überall zu. Besonders stark altert die Woiwodschaft Schlesien in Polen. Lediglich in einigen Städten gibt es weniger alte Menschen: In einigen Gebieten in Kroatien und im Ruhrgebiet. Dort nimmt die Bevölkerung insgesamt in vielen Städten ab. Und selbst die beiden größten Städte der Region Essen und Dortmund vermessen nur einen geringen Bevölkerungszuwachs von 0,1 Prozent.
Insgesamt dürfte Europa in den kommenden Jahren weiter altern – im Gegensatz zu anderen Regionen der Welt. Ohne Einwanderung wird der Mangel an Arbeitskräften kaum auszugleichen sein. Von 2015 bis 2080 könnten bis zu 72 Millionen Personen in die EU einwandern, hat Eurostat errechnet. Diese meist jungen Menschen zieht es wiederum oft in die Städte. Der Trend der wachsenden urbanen Bevölkerung könnte so weiter verstärkt werden.
Eine polnische Version dieses Artikels finden Sie bei unseren Kooperationspartnern Gazeta Wyborcza, eine tschechische Version bei Deník Referendum.
Dieser Artikel wurde als Teil des European Cities Investigative Journalism Accelerator produziert, einem Netzwerk europäischer Medien, das sich den Herausforderungen europäischer Großstädte und Länder widmet. Das Projekt ist eine Fortführung der europäischen Recherche Cities for Rent und wird vom Stars4Media-Programm gefördert.