Wenn Deutschland am Sonntag seine Stimmen für das Europäische Parlament abgibt, fragen sich diesmal viele Menschen: Wie stark werden die Rechten?
In der Sonntagsfrage zur Europawahl landeten die Rechtspopulisten von der AfD am 25. Mai mit 17 Prozent nach der Union auf Platz zwei. In der letzten Sonntagsfrage zur die Landtagswahl in Brandenburg landet die AfD mit 25 Prozent mit Abstand auf Platz eins, in Sachsen erreicht sie gar 34 Prozent.
Sind diese rechten Milieus noch erreichbar? Mit der AfD wird ein Lager politisch mächtiger, das sich in vielerlei Hinsicht vom Rest der Gesellschaft abgespalten hat. Die Positionen der AfD-Wähler unterscheiden sich deutlich von denen anderer Parteien. Wer vorhat, bei der Europawahl für die AfD zu stimmen, ist wütender und blickt anders auf Themen wie die Folgen des Ukraine-Kriegs und einen möglichen Wohlstandsverlust. Vor allem aber haben diese Wähler deutlich weniger Vertrauen in Regierung, Verwaltung und Medien.
Das geht aus einer Langzeit-Umfrage hervor, die das Tagesspiegel Innovation Lab gemeinsam mit Wissenschaftlern am Forschungszentrum Informatik (FZI) und dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT) ausgewertet hat. Seit 4. November 2022 befragt das SOSEC-Projekt eine repräsentative Stichprobe von circa 1500 Menschen in Deutschland. Die Parteipräferenz für die EU-Wahl („Welche Partei würden Sie wählen, wenn am Sonntag Europawahl wäre“) wird seit Ende 2023 ebenfalls erhoben. Die Auswertung zeigt einen sich radikalisierenden Teil der Gesellschaft, der zunehmend in einem abgespaltenen Diskurs lebt.
Zunächst fällt auf: AfD-Wähler haben mit Abstand am wenigsten Vertrauen in die Regierung.
Im Mai 2024 hatten nur drei Prozent der Menschen, die bei der EU-Wahl der AfD ihre Stimme geben wollen, „sehr viel“ oder „ziemlich viel“ Vertrauen in die Regierung. Das sind deutlich weniger als die CDU-Wähler, die mit 21 Prozent an vorletzter Stelle landen. Unter den Grünen-Wählern vertrauen hingegen 51 Prozent der Regierung.
Blickt man aber auf alle Befragten, hat das Vertrauen im vergangenen Jahr abgenommen.
Der Politikwissenschaftler Frank Decker von der Universität Bonn spricht von einem „generellen Vertrauensverlust in die demokratischen Parteien“, auch verursacht durch den permanenten Streit innerhalb der regierenden Ampelkoalition.
Das spiele der AfD in die Hände. Decker schätzt, die Hälfte derjenigen, die die AfD unterstützen, seien „Protestwähler, die bei überzeugenderer Politik wieder zurückgewonnen werden“. Insgesamt blickt er mit Sorge auf die erstarkende Rechte in Deutschland: „Wir haben es mit einer Verstärkung und Radikalisierung des rechten Randes zu tun.“
Wie schnell diese Radikalisierung zur Gefahr für das demokratische Miteinander werden kann, zeigte sich zuletzt ganz konkret anhand von Angriffen auf Politiker, etwa den sächsischen SPD-Spitzenkandidaten Matthias Ecke oder Berlins Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD): Wut wurde zu Gewalt.
Tatsächlich empfinden AfD-Wähler im Vergleich zu Unterstützern anderer Parteien bis zu doppelt so viel Wut. 78 Prozent stimmen der Aussage „Ich empfinde große Wut, wenn ich über die aktuelle Situation nachdenke“ mindestens „eher zu“.
Zum Vergleich: Bei CDU-Wählern sind es 48 Prozent, bei denen der SPD 39 Prozent. Grünen-Wähler geben in 33 Prozent der Fälle an, Wut über die aktuelle Situation. Die Wut des rechten Randes sei eine „undemokratische Tendenz“, sagt Decker. Denn sie könne „irgendwann die Schwelle zur Gewalt überschreiten“.
Am zweitwütendsten sind Menschen, die vorhaben, das Bündnis Sahra Wagenknecht zu wählen. Insgesamt ähneln sich die Einstellungen der Wähler von AfD und BSW häufig. „Es gibt eine große Schnittmenge zwischen dem BSW und der AfD: den Populismus“, sagt Decker.
Mit migrationsskeptischen und prorussischen Positionen gelinge es Wagenknecht mit ihrer Partei, Wähler von der AfD anzuziehen. Die sozialpolitischen Positionen zögen hingegen Wähler von der Linken ab. „Zählt man BSW und AfD zusammen, haben wir gesamtdeutsch ein populistisches Wählerpotenzial von 25 Prozent.“
Die Wut der AfD-Wähler ist im vergangenen Jahr noch weiter gestiegen.
Zudem kündigt sich eine zusätzliche Abspaltung an. Seit dem 25. April können die Umfrage-Teilnehmer auch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) als Wahlpräferenz angeben.
Die potenziellen BSW-Wähler sind fast so wütend wie die AfD-Anhänger. Parallel dazu werden die Wähler der Linken, aus denen die Wagenknecht-Partei hervorging, weniger wütend.
Aber worauf sind die populistischen Wähler eigentlich wütend? Auch darüber liefern die Umfragedaten Aufschluss.
Frust, Ausländerfeindlichkeit und das Gefühl, nicht das zu erhalten, was einem zusteht: Mit der AfD erhielten die Menschen „ein eigenes Angebot“. Die Partei stärkt diese Ressentiments weiter. Das Lager der AfD „vergrößert und verfestigt sich“ derzeit, sagt Decker. „Sie polarisieren sich weiter anhand bestimmter Fragen, die zuvor eine untergeordnete Rolle gespielt haben, etwa Migration.“
Auch deshalb blickt Decker mit Sorge auf zu erwartende Wahlerfolge der AfD. „Es wird zu einer Rechtsverschiebung im politischen Diskurs kommen. Andere Parteien werden Themen der AfD aufgreifen, ihre Positionen übernehmen.“ Bei den Konservativen sei das bereits zu beobachten, etwa bei der Union mit Blick auf Migration und Klimaschutz.
Was tun? Die Sorgen ernstnehmen? Mit Blick auf den Klimaschutz zum Beispiel ist Decker der Ansicht, „dass man diejenigen mitnehmen muss, die sich den Einbau einer neuen Heizung nicht leisten können“ oder Sorge vor einem Kontrollverlust bei Zuwanderung haben. Doch statt Lösungen für diese Sorgen zu suchen, beobachte er „ein Nachgeben und Zurückrudern“ der Politik, obwohl das nicht zur Problemlösung beitrage. „Wenn die Regierenden nachgeben, bestätigen sie die Positionen der Populisten.“ Das trage weiter zum Rechtsruck bei.
Wie weit die Polarisierung schon vorangeschritten ist – und wie schwer es sein könnte, sie wieder aufzulösen –, zeigt der Blick auf die Langzeitumfrage ebenfalls. Denn das Misstrauen erstreckt sich nicht nur auf die Politik…
Man könnte sagen: Die Wähler der populistischen Parteien haben eigene Kanäle, aus denen sie ihre Informationen ziehen. Dass die AfD ihre Wähler gezielt über Social Media anspreche, sei „ein richtiger Gamechanger“, sagt Decker. „Sie sind auf die traditionellen Medien nicht angewiesen und können sie dann auch delegitimieren. Und das verfängt bei den Leuten, sodass sie sich umso mehr über die sozialen Medien informieren. Es ist ein sich selbst verstärkender Prozess.“
Die Entwicklungen in Deutschland zeigen jedoch auch, dass eine Mehrheit der Bevölkerung sie nicht nur mit großer Sorge beobachtet. Viele von ihnen wollen nicht mehr tatenlos zusehen.
Als das Investigativnetzwerk Correctiv Anfang des Jahres eine Recherche über ein geheimes Treffen rechter Politiker und Unternehmer in Potsdam veröffentlichte, wurden bundesweit über mehrere Wochen Demonstrationen gegen rechts organisiert, an denen sich Hunderttausende beteiligten. Nach dem Angriff auf Matthias Ecke gab es zahlreiche Solidaritätskundgebungen.
Zugleich zeigt der Fall, wie gefestigt die Gruppe der rechtspopulistischen Wähler ist. Als im Januar 2024 die „Geheimplan gegen Deutschland“-Recherchen über die AfD erschien, ging die Zivilgesellschaft auf die Straße. Die Demonstrationsbereitschaft der Gesamtbevölkerung stieg sprunghaft an.
Bis heute ist sie hoch geblieben: Die Recherchen haben die Menschen nachhaltig mobilisiert – aber nicht alle gleichermaßen.
Am stärksten die Bereitschaft zu Demonstrieren bei den Grünen. Bei CDU-Wählern ist sie auf niedrigem Niveau, aber prozentual stark gestiegen. Nur bei der AfD zeigt sich nach dem 10. Januar 2024 kaum ein Effekt.
„Die AfD-Wähler brauchen gar nicht auf die Straße zu gehen. Es reicht, wenn sie die AfD wählen. Das wirkt“, sagt Decker.
Denn selbst wenn die Partei nicht Teil der Regierung sei, wirke sie schon jetzt auf die Gesellschaft. „Indirekt regieren sie natürlich schon längst mit und verändern die politische Agenda.“ Gute Wahlergebnisse könnten zur Folge haben, dass das noch stärker geschieht. „Sie könnten zum Beispiel die Wahl von Verfassungsrichtern blockieren.“