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Berliner Bildungssystem

Die Stadt wird durchmischter, die Schulen polarisierter

Berlins Kieze werden zunehmend durchmischter. An den Grundschulen jedoch sind arme und reiche Kinder immer stärker getrennt. Wo die Spaltung besonders stark ist und welche Rolle Privatschulen dabei spielen, erklärt der Wissenschaftler Robert Vief. Ein Gastbeitrag.
Berlins Kieze werden zunehmend durchmischter. An den Grundschulen jedoch sind arme und reiche Kinder immer stärker getrennt. Wo die Spaltung besonders stark ist und welche Rolle Privatschulen dabei spielen, erklärt der Wissenschaftler Robert Vief. Ein Gastbeitrag.

Dass eine soziale Durchmischung von Schulen wichtig für den Bildungserfolg von Kindern aus weniger privilegierten Familien ist, haben in den vergangenen Jahrzehnten Studien wieder und wieder gezeigt. Tatsächlich scheint soziale Diversität, also eine Mischung nach sozioökonomischen Kriterien, an den Berliner Schulen nur schwer herstellbar zu sein.

Die soziale Segregation an Berliner Grundschulen ist von 2010 bis 2020 deutlich gestiegen, sie sind zunehmend polarisiert.

Dieser Trend ist gerade deshalb so überraschend, weil die residentielle Segregation, also die räumliche Ungleichverteilung von Bevölkerungsgruppen auf Grundlage ihres gemeldeten Wohnortes, in Berlin seit 2010 eigentlich konstant abnimmt. Arme Familien leben heute an viel mehr unterschiedlichen Orten in der Stadt als noch vor zehn Jahren.

Während die Segregation von Kindern an Grundschulen nach Herkunftssprache abnimmt ...
... steigt die Segregation zwischen armen und reichen Kindern
Die Indizes zeigen zum einen die Segregation nach Armut in Schulen, zum anderen im Einzugsgebiet der Schulen. Je höher der Wert, desto stärker die Segregation. Nur die Primarstufe (Grundschule) ist in der Analyse berücksichtigt. Datenanalyse: Robert Vief auf Basis von Daten der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (Stand 2020), Grafik: Tagesspiegel Innovation Lab

Doch in den Schulen spiegelt sich diese Entwicklung der Wohnorte nicht wider.

Für staatliche Berliner Grundschulen gilt: Ihre Schülerschaft sollte aus dem zugewiesenen Einzugsgebiet kommen. Die genauere Betrachtung zeigt jedoch, dass die Schulen deutlich polarisierter sind als ihre Nachbarschaft(en) – gerade in Kreuzberg, sowie bestimmten Gebieten von Mitte und Neukölln.

Wo arme und reiche Kinder am meisten unter sich bleiben
Die Karte zeigt für jeden Stadtteil (Prognoseraum), ob sich der Anteil armer Kinder an den dortigen Grundschulen häufig vom Anteil armer Kinder in ihren Einzugsgebieten unterscheidet.
Die Karte bezieht sich nur auf Grundschulen bzw. solche mit einer angegliederten Grundschule. Als Indikator für Armut wird die Lernmittelbefreiung verwendet. Die Lernmittelbefreiung erlaubt es armen Familien, keinen Eigenanteil für Schulmaterialien bezahlen zu müssen
Datenanalyse: Robert Vief auf Basis von Daten der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (Stand 2020), Grafik: Tagesspiegel Innovation Lab

Auf der sozialen wie auch der sprachbezogenen Ebene gilt: die Berliner Schulen sind deutlich segregierter als ihre Einzugsgebiete es vermuten ließen. Schon früher war dies so, und auch deutlicher, als die Bewohnerschaft der Umgebung es nahelegt. Doch die zunehmende Durchmischung der Kieze zeigt sich – vor allem für den sozialen Indikator – überhaupt nicht in der Schülerschaft der Schulen.

Mehr zu den Berechnungen

Berechnung der Polarisierung anhand des „Index of Segregation“: Der Index of Segregation nach Duncan und Duncan berechnet sich aus der Anzahl der Schulen bzw. Einzugsgebiete in Berlin und der Gesamtbevölkerung sowie einer Referenzbevölkerungsgruppe:

wobei n die Anzahl der Einheiten (in diesem Fall Schulen bzw. Einzugsgebiete) in Berlin darstellt, x_i die Gesamtbevölkerung von Gruppe X in Einheit i, t_i die Referenzbevölkerungsgruppe in Einheit i, X die Gesamtbevölkerung der Gruppe X in Gesamt-Berlin and T die Referenzbevölkerungsgruppe in Gesamt-Berlin.

Mehr dazu lesen Sie hier.

Hier gilt ein genau gegenteiliger Trend: Sie waren in 2020 im Hinblick auf Kinder aus Familien mit geringem Einkommen deutlich ungleicher als noch in 2010.

Während sich Bezirke stärker durchmischen ...
... steigt die Segregation an den Schulen
Die Indizes zeigen zum einen die Segregation nach Armut in Schulen, zum anderen der Einzugsgebiete der Schulen im jeweiligen Bezirk. Die Werte wurden hier für jeden Bezirk separat ermittelt. Je höher der Wert, desto stärker die Segregation. In der Analyse berücksichtigt wurde nur die Primarstufe (Grundschule). Datenanalyse: Robert Vief auf Basis von Daten der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (Stand 2020), Grafik: Tagesspiegel Innovation Lab

Im Grundschulbereich lässt sich also eine stärkere Spaltung der Schulen aus sozialer Sicht beobachten, unabhängig davon, ob mehr wohlhabende Familien in die Nachbarschaften gezogen sind. Die Senatsverwaltung für Jugend, Bildung und Familie veröffentlicht den Proxy-Indikator der sozialen Zusammensetzung (Lernmittelbefreiung) nicht.

Eltern haben also darüber keine offiziellen Informationen, wählen Schulen aber augenscheinlich auf dieser Grundlage aus. Wer nicht möchte, dass der Nachwuchs eine bestimmte Einrichtung besucht, stellt einen Umschulungsantrag, klagt im Zweifelsfall – oder wählt eine Privatschule.

An den meisten öffentlichen Schulen ist der Anteil armer Kinder höher als in ihren jeweiligen Einzugsgebieten
An den meisten öffentlichen Schulen – und wenigen privaten – liegt die Armutsquote, gemessen an der Lernmittelbefreiung, über dem Schnitt der Einzugsgebiete.
Die Lernmittelbefreiung gilt als Proxy-Indikator für Armut.
Datenanalyse: Robert Vief auf Basis von Daten der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (Stand 2020), Grafik: Tagesspiegel Innovation Lab

Privatschulen folgen dem System der Einzugsgebiete nicht, sondern nehmen von überall aus der Stadt Kinder auf. Ihr Anteil hat über die letzten 15 Jahre stetig zugenommen.

Im Schuljahr 2022/23 besuchten 10,6 Prozent aller Berliner Schüler:innen eine Schule in freier Trägerschaft, Grund- und weiterführende Schulen zusammengenommen. 2010 waren es hingegen noch 8,8 Prozent und in 2006 sogar nur 6,5 Prozent.

Insbesondere Privatschulen sind sozial weitaus weniger divers und stärker privilegiert als staatliche Einrichtungen – und auch als die Nachbarschaften, in denen sie sich befinden. Der Anteil der Schüler:innen in Berlin, die ein Anrecht auf Lernmittelbefreiung haben, ist an Privatschulen sehr gering.

Für die Primarstufe weist diese Schulform gerade einmal einen nach Schulgröße gewichteten Durchschnitt von 8,2 Prozent an lernmittelbefreiten Schüler:innen auf, im Vergleich zu rund 34 Prozent an den staatlichen Grundschulen.

Datenanalyse: Robert Vief auf Basis von Daten der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (Stand 2020), Grafik: Tagesspiegel Innovation Lab

Wenn wir die Zusammensetzung der Privatschulen mit ihren – hypothetischen – Einzugsgebieten in der unmittelbaren Nachbarschaft vergleichen, so zeigt sich, dass sie meist deutlich weniger Kinder aus armen Verhältnissen beschulen, als dies ein hypothetisches Einzugsgebiet festlegen würde (vgl. Infobox).

Besonders ausgeprägt ist die Schieflage zum Beispiel in Gentrifizierungsgebieten. Wenn also Stadtteile mit einer vormals starken Armutskonzentration auf einmal eine neue soziale Durchmischung und allgemeine Aufwertung erfahren – dann haben genau in jenen Gebieten Privatschulen den Effekt, dass sich dort Kinder aus gut situierten Familien disproportional sammeln.

In Mitte spielen Privatschulen die größte Rolle – im ehemaligen Osten kaum
Privatschüler:innen und Privatschulen nach Bezirk. Sowohl Grundschulen als auch weiterführende Schulformen sind hier berücksichtigt
Die Lernmittelbefreiung gilt als angemessener Indikator für Armut.
Daten: Bericht Blickpunkt Schule 2022/23

Die Befürchtung, dass solche sozialen Missverhältnisse in der Bildungslandschaft entstehen, sind empirisch unterfüttert. Privatschulen spielen in der Entwicklung eine hervorgehobene Rolle, denn ihre Zahl steigt stetig.

Sie sind jedoch gleichzeitig im besonderen Maße von der sozialen Realität ihrer Nachbarschaften, und der Stadt im Allgemeinen abgekoppelt – mit am Ende negativen Folgen für die Gesamtheit des Bildungssystems.

Wo die soziale Zusammensetzung der Schulen sich besonders von der Zusammensetzung ihrer Einzugsgebiete entfernt
Veränderung der Unterschiede im Anteil armer Kinder an Schulen zu ihren Einzugsgebieten zwischen 2010–2020.
Die Karte bezieht sich nur auf Grundschulen bzw. solche mit einer angegliederten Grundschule. Als Indikator für Armut wird die Lernmittelbefreiung verwendet.
Datenanalyse: Robert Vief auf Basis von Daten der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie (Stand 2020), Grafik: Tagesspiegel Innovation Lab

Die Autorinnen und Autoren

Robert Vief
Text & Datenanalyse
Robert Vief ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Dort forscht er am Lehrstuhl für Stadt- und Regionalsoziologie zu Themen wie Segregationsentwicklungen und sozialen Ungleichheitsprozessen in Städten. Sein Dissertationsprojekt befasst sich mit der Entwicklung der (Grundschul-)segregation in Berlin und wird von Prof. Dr. Talja Blokland betreut. Diesen Text hat er als Gastbeitrag für den Tagesspiegel geschrieben.
Katja Demirci
Redigatur
Lennart Tröbs
Visualisierung & Design
Helena Wittlich
Produktion
Veröffentlicht am 7. Januar 2023.
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