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Ein Jahr Corona in Deutschland

Chronik eines Kontroll­verlusts

Am 27. Januar 2020 wurde der erste Coronafall in Deutschland gemeldet. Die Aufregung war gering. Heute ist die Kanzlerin verzweifelt, der Ausnahmezustand Alltag. Wie konnte es soweit kommen?
Am 27. Januar 2020 wurde der erste Coronafall in Deutschland gemeldet. Die Aufregung war gering. Heute ist die Kanzlerin verzweifelt, der Ausnahmezustand Alltag. Wie konnte es soweit kommen?
 
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Es ist Sonntag, der 24. Januar 2021, als Angela Merkel die Fassung verliert. In einer internen Videokonferenz der Unionsfraktionschefs erklärt sie ihre Sicht in einer Ausdrucksweise, die man von ihr weder in der Finanzkrise, noch in der Flüchtlingskrise öffentlich hörte. Die „Bild“ zitiert sie aus dem Gespräch mit den Worten:

Uns ist das Ding entglitten.
Angela Merkel, 24. Januar 2021

Das Ding: eine Pandemie. Vor genau einem Jahr wird der erste Fall des Coronavirus in Deutschland bekannt. SARS-CoV-2 heißt das Ding, ein 500stel so groß wie ein menschliches Haar dick ist. Ein Jahr später sagt Angela Merkel: „Das ist alles furchtbar. Man nennt es auch Naturkatastrophe.“ Die Gesundheitsämter hätten keine Möglichkeit mehr zur Kontaktnachverfolgung, die Software sei nur bei einem Drittel ans System angebunden.

Merkel laut „Bild“: „Sie erinnern sich an meine Prophezeiungen im Herbst. Alles ist so eingetroffen.“ Was sie nicht prophezeite: Die Mutationen – spät erkannt, weil Deutschland im Monitoring des Virus hinterherhinkt. Einmal mehr.

Seit 27. Januar 2020 haben sich in Deutschland mehr als zwei Millionen Menschen mit SARS-CoV-2 infiziert. Mehr als 50.000 sind gestorben. Wie konnte es dazu kommen?

Der Versuch einer Chronik:

Foto: Hans Lemminger

Der erste Corona-Fall Deutschlands wird entdeckt: Ein Mitarbeiter der bayerischen Firma Webasto wurde in München positiv auf das neuartige Virus getestet. Er soll sich bei einer aus China eingereisten Kollegin mit Sars-Cov-2 angesteckt haben. Am selben Tag, geschlagene 18 Tage nach Bekanntwerden des Virus, verkünden Lufthansa und British Airways, die Flüge nach China zu streichen. Da ist das Virus schon lange angekommen.

Die Weltgesundheitsorganisation ruft den internationalen Gesundheitsnotstand aus. Es wird tiefes Bedauern ausgedrückt, dass man nicht früher reagiert habe. Die Organisation wurde für ihre späte Reaktion kritisiert.

In China ist das riesige Covid-Krankenhaus fertig. Der Bau wurde am 23. Januar beschlossen, zwei Tage später war Baubeginn.

Foto: dpa

Das Robert Koch-Institut (RKI) schätzt die Gefahr für die Bevölkerung in Deutschland weiterhin als gering ein. Am Abend kommt die Meldung: ein Patient in Nordrhein-Westfalen ist an dem Virus erkrankt. Der Mann war zuvor auf einer Karnevalssitzung. Schulen und Kindergärten im Kreis Heinsberg schließen. Der Infizierte habe in den zurückliegenden zehn bis 14 Tagen eine „unendliche Vielzahl von Kontakten“ zu anderen Menschen gehabt, sagt Landrat Stephan Pusch von der CDU. „Wir können nicht garantieren, dass wir die Infektionsketten gestoppt kriegen“, sagt Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann.

Unter Federführung des Bundesinnen- und des Bundesgesundheitsministeriums bildet die Bundesregierung einen Krisenstab. Sie hat seit 2012 ein Pandemieszenario vorliegen, es liest sich wie eine Blaupause für den Corona-Ausbruch. Darin wird auf die Notwendigkeit des Einsatzes „von Schutzausrüstung wie Schutzmasken, Schutzbrillen und Handschuhen“ im großen Stil hingewiesen. Ernst genommen hat das in der Regierung anscheinend keiner so recht. Um rasch an Masken zu kommen, zahlt das Gesundheitsministerium horrende Preise – und erhält zum Teil Schrottware. Dutzende Klagen sind heute noch anhängig.

Als erste Großveranstaltung soll die bevorstehende internationale Reisemesse ITB in Berlin abgesagt werden. Die Bundespolizei wird angewiesen, „dass in allen Zügen im Regional- und Fernverkehr Aussteigekarten auszufüllen sind, wenn Corona-Verdachtsfälle festgestellt wurden“ – kaum umsetzbar. Kanzlerin Angela Merkel plädiert beim Umgang mit dem Virus für „Maß und Mitte“. Es sollten nicht alle Veranstaltungen abgesagt werden. Deutschland gehöre zu den Ländern, die die besten Voraussetzungen hätten, um mit dem Virus klarzukommen. Sie rät, einander nicht mehr die Hand zu geben.

Politik und Robert-Koch-Institut tun sich noch immer schwer mit klaren Einschätzungen: „Die Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung wird in Deutschland aktuell als gering bis mäßig eingeschätzt”, heißt es im Lagebericht des RKI vom 29. Februar. Am selben Tag setzt die WHO die Warnstufe von „hoch“ auf „sehr hoch“. Der Coronavirus-Update-Podcast des NDR startet, Virologe Christian Drosten spricht über die Entwicklungen in Sachen Corona.

Der erste Berliner Coronapatient wird in die Charité eingeliefert. Der 22-Jährige war mit starken Grippesymptomen in seiner Wohngemeinschaft zusammengebrochen. Einen Monat später wird er noch immer im Krankenhaus sein.

Das Wirtschaftsministerium erlässt ein Ausfuhrverbot für Masken, Handschuhe und Schutzanzüge. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann sagt rückblickend: „Wir hatten keine OP-Masken, selbst Desinfektionsmittel wurde knapp.“

Christian Drosten, der als erster einen Coronatest entwickelt hat, wird ins Kanzleramt geladen, um Merkel und die Länderchefs zu beraten. Bilder von Militärlastwagen in Bergamo, die Tote abtransportieren, entsetzen die Welt. Frankreich schließt die Schulen. Die Länderchefs beschließen, das ebenfalls zu tun. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) bringt mit 156 Milliarden Euro die höchste Neuverschuldung der Republik auf den Weg, um die Ausbreitung des Virus zu drosseln und Folgen zu mildern.

Nach zahlreichen Infektionen in Clubs lässt der Berliner Senat wie andere Bundesländer zuvor Kneipen, Bars, Clubs und Kinos schließen.

Nach einer weiteren Krisensitzung wird das weitgehende Herunterfahren des gesamten öffentlichen Lebens und die Schließung der Grenzen beschlossen. Lieferketten brechen zusammen. Berlin hat mit der Planung eines eigenen Krankenhauses für bis zu 1000 Covid-19-Patienten auf dem Messegelände begonnen.

Foto: imago

Angela Merkel hält eine Ansprache an die Bevölkerung. „Es ist ernst“, sagt die Kanzlerin. Seit dem Zweiten Weltkrieg habe es keine Herausforderung mehr gegeben, „bei der es so sehr auf unser gemeinsames solidarisches Handeln ankommt“.

Foto: Rene Traut/dpa

Markus Söder sorgt für Unmut bei seinen Länderkollegen. Er prescht vor und verhängt weitreichende Ausgangsbeschränkungen für Bayern. Das Verlassen der eigenen Wohnung ist ab dem nächsten Tag nur noch mit triftigem Grund erlaubt. Später kommt das bundesweit. Söder posiert in den Hallen eines Toilettenpapierfabrikanten. Weitere Hamsterkäufe sollen vermieden werden.

Der Bundestag beschließt in erster, zweiter und dritter Lesung an einem Tag das erste milliardenschwere Coronapaket.

Die zunächst für zwei Wochen geltenden Kontaktbeschränkungen werden bundesweit bis zum 19. April verlängert. Ostern fällt aus, keine Gottesdienste. Später werden die Beschränkungen bis Mai verlängert.

Kanzlerin und Länderchefs einigen sich auf die schrittweise Wiederaufnahme des Schulbetriebs ab 4. Mai.

Sachsen führt als erstes Bundesland eine Maskenpflicht ein, sie gilt beim Einkaufen und im Nahverkehr. Merkel macht im CDU-Präsidium deutlich, wie unzufrieden sie sei, dass die Botschaft vorsichtiger Lockerungen zu „Öffnungsdiskussionsorgien“ geführt habe.

An der Goldgrube 12 in 55131 Mainz gibt es Hoffnung. Das Unternehmen Biontech darf einen möglichen Impfstoff erstmals in einer klinischen Studie testen.

Die US-Arzneimittelbehörde erteilt eine Notfallzulassung für das antivirale Medikament Remdesivir, das eigentlich gegen Ebola entwickelt wurde. Nach kurzer Zeit zeigen Studien, dass das Medikament bei Covid-19-Erkrankungen keinen echten Nutzen hat. Ende November rät die WHO sogar von seinem Einsatz ab.

Foto: dpa

Sachsen-Anhalt registriert als erstes Bundesland seit Ausbruch der Pandemie keinen Neuinfektionen im Vergleich zum Vortag. Die Fußball-Bundesliga darf wieder spielen – ohne Fans in den Stadien.

Die WHO beendet ihre Studie zur Wirksamkeit von Hydroxychloroquin. Das Mittel gegen Malaria soll Berichten zufolge helfen, die Sterblichkeit bei schwer kranken Covid-19-Patienten zu verringern. Die WHO stellt fest: Das stimmt nicht.

In einer Fleischfabrik der Firma Tönnies gibt es mehr als 1500 Coronafälle. Der Fall rückt die Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie in grelles Licht. Für Bürger aus dem Kreis Gütersloh gelten andernorts Beherbergungsverbote. Da die Fleischfabrikarbeiter kaum Kontakt zur übrigen Bevölkerung haben, kann der Ausbruch rasch eingedämmt werden.

Die Deutschen feiern die schrittweise Rückkehr der alten Normalität. Die Kanzlerin ist im Urlaub. Kanzleramtschef Helge Braun schärft mit den Chefs der Staatskanzleien die Hotspot-Strategie als Reaktion auf den Fall Tönnies nach. Beschränkungen sind bei regionalen Ausbrüchen ab 50 Neuninfektionen innerhalb von sieben Tagen je 100.000 Einwohner zu treffen – der Wert war im Mai erstmals gewählt worden. Reisende aus Hotspots sollen nur mit negativem Coronatest beherbergt werden oder in ein anderes Bundesland einreisen dürfen. An Flughäfen wird wenig kontrolliert.

Zu einer Protestkundgebung sogenannter Querdenker in Berlin reisen laut Veranstalter 1,3 Millionen Teilnehmende an. Die Polizei spricht von 20.000.

In Hongkong stellen Forscher bei einem jungen Mann, der sich bereits von einer Corona-Infektion erholt hatte, eine erneute Infektion fest. Es ist der erste bestätigte Fall dieser Art weltweit. Bei der zweiten Infektion handele es sich um eine genetisch leicht veränderte Variante des Virus. Die Wahrscheinlichkeit, sich ein zweites Mal mit dem Virus zu infizieren gilt inzwischen allerdings als sehr gering. Laut einer Oxford-Studie von Dezember 2020 liegt die Inzidenzrate für solche Zweitinfektion bei 0,13 auf 10.000 Tage.

Foto: dpa

Reichsbürger, Rechtsextreme, Coronaleugner, sogenannte Querdenker und Esoteriker versuchen, in den Reichstag zu gelangen.

In Bottrop verspricht Gesundheitsminister Jens Spahn auf einer Bühne: „Man würde mit dem Wissen heute, das kann ich Ihnen sagen, keine Friseure mehr schließen und keinen Einzelhandel. Das wird nicht nochmal passieren.“

Wenn die Zahlen sich so weiterentwickeln, werde es zu Weihnachten 19 200 Neuinfektionen am Tag geben. Das hat Kanzlerin Merkel – mal wieder hinter verschlossenen Türen – im CDU-Präsidium gesagt. Das wird ihre Taktik: intern drastische Warnungen aussprechen, wissend, dass sie nach draußen dringen, um Druck auf die Ministerpräsidenten aufzubauen. Die Berliner Bezirke Neukölln und Mitte melden mehr als 100 Neuinfektionen je 100 000 Einwohner in sieben Tagen, die bundesweite Sieben-Tages-Inzidenz liegt bei 31,5 Fällen. Einige Ministerpräsidenten wie Bodo Ramelow und Michael Kretschmer halten Merkels Warnungen für Alarmismus. Ramelow sagt später: „Die Kanzlerin hatte Recht.“ Im Kreise der Ministerpräsidenten habe man es nicht so recht hören wollen. „Im Gegenteil: Diese ständigen Mahnungen wurden auch von mir als Belästigung empfunden.“

Finanzminister Olaf Scholz muss zum zweiten Mal viel Geld auftreiben. Restaurants, Kneipen, Theater, Fitnessstudios werden ab November geschlossen.

Die dänischen Gesundheitsbehörden melden zwölf Fälle von Covid-19, die durch eine bei Nerzen auftretende Variante des Sars-CoV-2-Virus verursacht wurden. Die Regierung lässt vorsorglich Tausende Tiere töten.

In Mainz meldet Biontech, dass sein zusammen mit dem US- Pharmakonzern Pfizer entwickelter Corona-Impfstoff in klinischen Studien eine Wirksamkeit von 95 Prozent gezeigt habe.

Mehr als eine Million bestätigte Corona-Fälle deutschlandweit.

Die Friedrichstraße, mitten im zweiten Lockdown, in Berlin am 26. Dezember 2020. Foto: imago

Zwei Wochen vor Weihnachten ist Merkels Szenario längst übertroffen. 1,3 Millionen Infektionen insgesamt, fast 22.000 Tote. Der zweite Lockdown kommt. Auch Kitas, Schulen und Geschäfte werden ab 16. Dezember wieder geschlossen. Ein Verkaufsverbot für Silvesterböller wird verhängt, größere Versammlungen zu Weihnachten und Jahreswechsel werden ausdrücklich untersagt.

In Großbritannien wird die 90-jährige Margaret Keenan als erster Mensch weltweit außerhalb von Studien mit dem Biontech-Pfizer-Vakzin geimpft.

Die britische Regierung um Boris Johnson teilt mit, dass die im Dezember in der Grafschaft Kent entdeckte Virus-Mutation B117 bereits für die Mehrzahl an Infektionen im Land verantwortlich sei.

Etwas später als die USA und Großbritannien lässt auch die Europäische Arzneimittelbehörde EMA den Impfstoff von Biontech und Pfizer zu.

In Berlin wird der 1000. Todesfall in Berlin im Zusammenhang mit dem Coronavirus gemeldet. Die 1000 Menschen haben Namen, Gesichter und eine Geschichte. Sie fehlen der Stadt. Der Tagesspiegel gedenkt ihrer seither fortlaufend auf einer Seite.

Edith Kwoizalla ist mit 101 Jahren die erste, die in Deutschland gegen Corona geimpft wird. Foto: dpa

Seit dem Morgen wird auch in Deutschland geimpft. Alte und Menschen mit ernsten Vorerkrankungen sollen zuerst geimpft werden. Die Euphorie ist groß. Schnell zeigt sich: Impfstoff und Kapazitäten fehlen.

Angela Merkel hält die wohl letzte Silvesteransprache als Bundeskanzlerin. „Ich denke, ich übertreibe nicht, wenn ich sage: Nie in den letzten 15 Jahren haben wir alle das alte Jahr als so schwer empfunden.“ Aber seit wenigen Tagen habe die Hoffnung Gesichter: „Es sind die Gesichter der ersten Geimpften.“

Schulen und Kindertagesstätten bleiben in den meisten Bundesländern vorerst bis zum 14. Februar geschlossen. Medizinische Masken werden deutschlandweit zur Pflicht.

In Deutschland wird der 50.000. Corona-Todesfall gemeldet.

Kaum haben die Impfungen Hoffnung gemacht ist die nächste Kehrtwende in Sicht. Die Mutationen B.1.1.7 und B.1.351 verbreiten sich schnell, erratisch und zumeist unerkannt in Deutschland. Diee Bundeswehr soll die Schnelltests in den Alten- und Pflegeheimen voranbringen. Erst in rund 130 von 400 Gesundheitsämtern kann eine Software für eine digitalisierte und schnellere Kontaktnachverfolgung eingesetzt werden.

Merkel warnt wieder. Diesmal davor, dass die Lage wegen der weit ansteckenderen Virus-Mutationen weiter entgleitet. Oder soll man sagen: Wieder einmal? Das Kanzleramt versucht, Hoffnung zu verbreiten und vermeldet als Zahl des Tages: 1.783.118 – so viele Corona-Schutzimpfungen seien bislang in Deutschland verabreicht worden. 228.763 Bürger hätten bereits die Zweitimpfung erhalten. Bisher wurden weniger Impfdosen pro Woche verabreicht, als es die Impfstrategie der Bundesregierung vorsieht.

Die Todeszahlen und Fälle der vergangen 366 Tage:

Über die Autorinnen und Autoren

Sidney Gennies
Textproduktion
Torsten Hampel
Text & Recherche
Maris Hubschmid
Text & Recherche
Georg Ismar
Text & Recherche
Hendrik Lehmann
Produktion & Recherche
David Meidinger
Webentwicklung
Dennis Pohl
Text & Recherche
Katrin Schuber
Aufmachergrafik
Veröffentlicht am 27. Januar 2021.
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