Meine Reise nach Lyssytschansk beginnt mit einem Druckverband. In Kiew bringen mir zwei freiwillige Sanitäter Erste Hilfe im Krieg bei. Sarah und Steve kommen aus England, sie unterstützen die Ukraine. Von ihnen lerne ich, wie man sich den Arm abbindet, mit einem speziellen Werkzeug, dem Tourniquet.
„Zieh die Schlinge so fest wie möglich zu, schraub die Stange zu, notiere die Zeit mit der anderen Hand“, sagt Sarah. Mein Arm erstarrt, als würde er nie wieder zum Leben erwachen. Ich notiere die Zeit. „Hervorragend“, sagt Steve. „Am häufigsten sterben die Leute an Blutverlust, und für die Rettung bleiben nur drei Minuten. Ein Tourniquet kann in 20 Sekunden angelegt werden. Befestige es für alle Fälle oben an der Schutzweste, um später keine Zeit zu verlieren. Und den Helm nicht vergessen.“
Ich habe mich an den Krieg gewöhnt, aber es ist immer noch unangenehm, wenn man im Zentrum einer europäischen Großstadt beiläufig an die kugelsichere Weste erinnert wird, als wäre es ein Regenschirm.
Ich fahre Mitte Juni mit dem Team der Freiwilligenorganisation Base UA in den Donbass. Es leistet dort humanitäre Hilfe und bringt Menschen in Sicherheit. Die Jungs von Base haben zu Kriegsbeginn ihre persönlichen Dinge und ihre Arbeit aufgegeben. Sie brachten Menschen nach Lwiw in der Westukraine und nach Polen, dann gingen sie in den Donbass, weil sie merkten, dass sie dort dringender gebraucht werden.
Die Nacht verbringen wir in Slowjansk. Morgens steigen wir in zwei knallrote gepanzerte Mercedes-Sprinter, die früher als Geldtransporter durch Deutschland gefahren sind. Das dritte Auto ist ein großer Krankenwagen mit der Aufschrift „Ambulance“ – ein Geschenk aus England.
Die Entfernung zwischen Slowjansk und Lyssytschansk beträgt knapp 100 Kilometer. Zuerst Asphalt, ein paar Checkpoints, Ausweiskontrollen (in der ganzen Zeit, die ich im Donbass verbracht habe, wurden meine Papiere nie überprüft – ach, eindimensionale Männerwelt, die Frauen nicht wahrnimmt!).
Schwarze Rauchwolken werde ich jedes Mal sehen, wenn ich in die Stadt fahre. Wir fahren weiter. Kleine weiße Wolken stehen bewegungslos da. Der Himmel ist klar und blau. Eine ruhige Weite. Plötzlich, nach einer Kurve, erscheint am Horizont ein Wald aus dünnen Schornsteinen – Lyssytschansk. Zwischen ihnen sehen wir überall schwarze Rauchwolken, ein Zeichen, dass die Stadt beschossen wird.
Das Schild „Lyssytschansk 15 km, Sjewjerodonezk – 22 km“ huscht vorüber. Diese 15 Kilometer sind der gefährlichste Abschnitt der Straße. Er ist komplett offen. Man muss mit maximaler Geschwindigkeit fahren, um zu einem unbequemen Zielobjekt zu werden. Dima tritt das Gaspedal voll durch, der Tacho zeigt 150 Stundenkilometer. Sechs Minuten angespannte Stille – und wir sind in der Stadt. Das Einzige, was ich auf dem Weg wahrnehme, ist ein Checkpoint, der von Granaten zerstört wurde. In Lyssytschansk sehen wir, trotz der Todesgefahr, eine kleine Ziegenherde und eine Frau mit einem Rucksack, die ihr folgt.
An einem Auto bastelt ein Mann herum. Als wäre nichts geschehen, geht an ihm eine majestätische alte Frau vorbei, mit einem gestärkten weißen Panamahut und auf einen Stock gestützt. Sie scheinen hier jedes Gefühl für Gefahr verloren zu haben.
Wir steuern die Feuerwache an, wo Leute hinkommen, die den Sinn für die Bedrohung nicht verloren haben und sich entschieden haben, wegzugehen. Einige warten dort auf das Auto einer anderen Hilfsorganisation. In der Nähe steht eine Menschenschlange mit Eimern, Plastikflaschen und Karren, um Wasser zu bekommen, das nur zum Waschen verwendet werden kann. Trinkwasser fehlt in Lyssytschansk seit Mitte April, Strom seit Mai. Telefonverbindungen gibt es nicht mehr.
Rechts von der Feuerwache gehen Korrespondenten der „New York Times“ um ihr beschossenes Auto herum. Sie reparieren die durch Splitter beschädigte Windschutzscheibe des Wagens notdürftig mit Klebeband, Gott sei Dank ist niemand verletzt.
Wir bringen Lebensmittel und Trinkwasser zum humanitären Stab in der Schule. Es sind vor allem ältere Frauen, die dort schon auf Hilfe warten. Ich versuche, zu verstehen, warum sie nicht wegfahren. „Wer braucht uns, und wo werden wir leben und arbeiten?“, sagen sie. Schüsse sind zu hören, die die Frauen aber kaum stören.
Insgesamt haben 80.000 Menschen die rund 100.000 Einwohner zählende Stadt Lyssytschansk verlassen. Die Verbliebenen sind dickköpfig. Einige von ihnen werfen denjenigen, die weggegangen sind, sogar Feigheit vor. Wir gehen zu den Adressen, die wir von Verwandten bekommen haben. „Meistens erhalten wir Anfragen von Angehörigen, die bereits weggefahren sind“, sagt einer der Freiwilligen von Base UA. „Sie senden ihre Videobotschaften und flehen ihre in Lyssytschansk gebliebenen Verwandten an, sich zu retten. Ich zeige diese Botschaften, ich sage: ,Leute, versteht ihr, dass ihr eure Angehörigen vielleicht nie wieder sehen werdet?‘ Die Antwort ist fast gleichgültig: ,Ja, wir verstehen. Aber wir werden nicht weggehen.‘“
Da brennt ein Supermarkt, getroffen vom Artilleriefeuer, und auf der anderen Straßenseite wird gegrillt, einige Frauen stehen herum und unterhalten sich. Ein paar Tage später sehe ich während eines Angriffs ein Pärchen aus einem Treppenaufgang kommen. Das Mädchen im kurzen karierten Rock und der sportliche junge Mann steigen auf ihren Motorroller und fahren unter dem Donnern der Artillerie irgendwohin. Ich weiß nicht, ob es ein Akt verzweifelten Mutes, des Wahnsinns oder völliger Gleichgültigkeit ist.
Ein Mädchen umarmt einen riesigen Teddybären. Wir fahren weiter. Während unaufhörlich geschossen wird, rennen die Helfer an Häusern und Bäumen entlang auf eine Frau zu, deren Verwandte uns darum gebeten haben, sie abzuholen. Ich bleibe zurück. Plötzlich höre ich Kinderstimmen hinter dem Zaun. Als ich das Tor aufschiebe, rennen zwei Mädchen und ein Junge auf dem Hof herum, der mit Gerümpel vollgestopft ist. Es donnert schon, als ob direkt in ihrem Hof geschossen würde.
„Kinder!“, rufe ich. „Kinder, warum seid ihr allein? Wo sind die Erwachsenen?“ Wir rennen ins Haus, das schwankt und wackelt. Inmitten dieses grollenden Albtraums sitzt eine junge Frau und stillt ihr Baby.
„Macht euch bereit! Ihr habt zwei Minuten!“, rufe ich.
In solchen Momenten fällt die ganze Schale des Lebens sofort von dir ab, nur eine Sache bleibt – dem Krieg zu trotzen, ihn auf die einzig mögliche Weise zu besiegen: nicht zuzulassen, dass diese Bestie einen Menschen tötet. Einen Mann, eine Frau, ein Kind zu retten. Sie zu schützen, mit dem eigenen Körper.
„Wie ist Ihr Name?“, rufe ich durch den Donner.
„Dascha. Ich bin Dascha Halitsch.“
„Sind das Ihre Kinder?“
„Ja.“
Daschas Vater Jura taucht auf, ein stämmiger Mann, und eine unauffällige Frau, die Mutter. Jura fordert seine Enkel auf, zumindest einige Sachen in Säcke zu packen und mit uns zu gehen. Er sammelt Ausweispapiere ein und steckt sie in Daschas Tasche. Er selbst weigert sich, wegzufahren. Plötzlich kracht es so, dass Holzsplitter vom Türpfosten wegfliegen. Wir rennen aus dem Haus, Jura trägt das Baby und schützt dessen Kopf mit den Händen.
„Papa, Papa!“, fleht Dascha, „bitte komm mit uns, Papa!“
„Ich will sehen, wie das alles endet“, sagt er. Und bleibt.
Er ist ein harter Kerl. Äußerlich sieht er ein wenig aus wie Picasso. Ich schleppe einen Sack mit Babysachen. Es scheint, als würden uns gleich Splitter treffen, also ist es das Wichtigste, dass alle ins Auto springen und schnell wegfahren. Auch Juras Frau kommt mit.
Eine Granate schlug im Treppenaufgang ihres Hauses ein, in dessen Keller die Menschen im Luftschutzraum saßen. Die Granate hätte ihn zerstören können, aber ein großer Walnussbaum im Hof verhinderte es. Den Baum gibt es nicht mehr, nur ein Stück des Stammes ist geblieben.
Alexandra Petrowna, die eine Baskenmütze trägt, thront wie die Königinmutter in einem Rollstuhl in der Mitte des Busses, alle anderen Passagiere sitzen auf den beiden Bänken an den Seiten. Drei sind verwundet, wir bringen sie ins Krankenhaus. Die anderen werden wie üblich in einer Kirche übernachten, und am Morgen kommt der Bus der Rettenden Engel, einer anderen Hilfsorganisation im Donbass. Alle fahren damit nach Pokrowsk, von wo täglich ein Evakuierungszug nach Lwiw geht.
Wir fahren und plaudern über Mathematik und das Leben. „Ich verstehe nicht“, sagt Alexandra Petrowna plötzlich, „was Putin da macht. Er hat doch früher alles so gut gemacht, aber jetzt …“
„2014 hat er einen guten Job gemacht?“, sage ich.
„Er war es nicht“, antwortet die Lehrerin selbstbewusst. „Es war Poroschenko, der den Krieg begonnen hat. Er hat so viel Geld zusammengeraubt. Und weiß der Kuckuck, was Amerika alles tut. Amerika schickte Truppen hierher. Es schickt Söldner hierher. Und warum ist es seltsam, dass ich Putin mag?“ „Nun, er hat den Krieg begonnen.“
„Wo hat er den begonnen? Er ist einfach für die Russen und die russische Sprache.“
„Wurde Ihnen verboten, Russisch zu sprechen?“
„Ja. Hier wurde ein Gesetz verabschiedet, dass man überhaupt kein Russisch sprechen darf.“
„Wurde Ihnen das verboten? Hat man Ihnen direkt gesagt, Sie sollen den Mund halten?“
„Ja, das haben sie gesagt, als ich Brot kaufen ging: ,Wir werden Sie nicht bedienen, sprechen Sie Ukrainisch.‘“
„In Lyssytschansk, wo alle Russisch sprechen, hat man Ihnen kein Brot verkauft?“ „Ja.“
Die Nachbarn im Bus fangen an zu lachen. Ein ehemaliger Fernfahrer sagt: „Ich ging in Lwiw in eine Gaststätte, dort sprachen sie Russisch mit mir.“ Alexandra Petrowna beachtet ihn nicht.
„Warum werden Sie jetzt evakuiert?“, frage ich.
„Weil Krieg ist.“
„Putin hat damit angefangen! Russische Flugzeuge flogen nach Kiew …“ „Nein, als die Truppen in den Donbass kamen, hat Putin gesagt: Wir werden die Russen schützen, das hat er gesagt.“
„Und was ist das Ergebnis? Sie sind 90 Jahre alt, und Sie gehen ins Ungewisse … Es war Putin, der das getan hat.“
„Nein, er schützt die Russen.“
Ich verstehe die Sinnlosigkeit des Streits, sie tut mir leid, wir wenden uns einem neutralen Thema zu. Wie jeden Morgen hält das Team von Base UA an einem großen Lagerhaus, wir beladen alle Autos mit humanitären Hilfsgütern, dann geht es los Richtung Lyssytschansk. Diesmal fahre ich im englischen Krankenwagen. Ich sitze hinten, das Fahrzeug ist vollgepackt mit Lebensmitteln. Heute dauert die Fahrt länger. Die Eisenbahnbrücke ist gesprengt, wir nehmen einen Umweg über eine Landstraße, der Staub ist unglaublich, ich kann nichts sehen.
Plötzlich sind das Pfeifen von Granatwerfern und Explosionen zu hören, so nah, dass es fast scheint, sie könnten uns treffen. Igor packt das Lenkrad, keucht, das Auto wackelt auf der schmalen Straße. Die Konserven schlagen gegeneinander, aus dem Augenwinkel sehe ich eine Orange auf den Boden rollen. Ich werde hin und her geschleudert, der Beschuss hört nicht auf. Eine panische Angst um mein Leben packt mich, ich kann nur noch schreien. Wir rasen vorwärts.
Alles hört so plötzlich auf, wie es begonnen hat. Wir halten an. Aus den beiden roten Sprintern kommen die anderen Jungs. Alle beschließen, heute nicht mehr nach Lyssytschansk zu fahren. Wir steuern zu einer zerstörten Tankstelle. Es stellt sich heraus, dass die Landstraße und der Beschuss den Krankenwagen kaputtgemacht haben, die Bastler Igor und Ruslan klettern darunter und versuchen ihn behelfsmäßig zu reparieren.
Dann, inmitten der Barbarei des Krieges, essen wir Orangen aus zerrissenen Tüten. Wir beschließen, die humanitäre Hilfe in der benachbarten Kleinstadt Siwersk zu verteilen, die ebenfalls beschossen wurde.
Ich gehe durch den Innenhof eines mehrstöckigen Gebäudes. Am Eingang sitzen Männer und rauchen lässig. Auch sie wollen nicht gehen, als ich ihnen das vorschlage. Sie sagen: „Wer wartet dort auf uns, wovon würden wir leben?“ (Und wovon lebt ihr hier?) „Dort gibt es keine Arbeit.“ (Und hier, in einer ständig beschossenen Stadt ohne Strom, Wasser und Telefon?)
Im vierten Stock hängt an der Tür zu einem Vorraum ein Schild mit der Aufschrift „HIER WOHNEN MENSCHEN“. Ich hämmere dagegen, es kommt keine Antwort. Ich gehe hinein, schlage mit Händen und Füßen gegen die Wohnungstür. Schweigen. Ich renne in den sechsten Stock und hämmere dort. Eine Frau mit einem unauffälligen, müden Gesicht kommt heraus, Krankenschwester Ljudmila, die sich um den Kranken kümmert.
„Wollen Sie nicht weggehen?“ Ich frage nur für alle Fälle.
„Mein Mann und ich nicht. Wir bleiben. Aber nehmen Sie Juri Nikolajewitsch mit.“ Wir gehen in die Wohnung. Ljudmila öffnet die Tür.
Ich sehe einen Mann im Korridor mit zerzausten grauen Haaren, einem schmalen Gesicht und leuchtenden Augen. Aus irgendeinem Grund steht vor ihm eine leere Babybadewanne. Der Mann trägt nur eine Unterhose, die mit einer großen gelben Wäscheklammer befestigt ist. Er ist nicht nur dünn, sondern völlig ausgemergelt.
„Juri Nikolajewitsch“, sagt Ljudmila zu ihm, „diese Frau kann Sie hier herausholen.“ Überraschend leicht geht er darauf ein. Wir fangen an zu packen. Wo was in der Wohnung liegt, weiß er nicht so recht. Wir packen ein Paar warme Socken ein („Meine Füße frieren die ganze Zeit, ich muss mich wärmer anziehen“, sagt er), Turnschuhe, ein weiteres Paar Pantoffeln.
Plötzlich sagt er: „Und den Safe! Wir müssen den Safe mitnehmen.“ Der Safe wird gefunden, es ist ein grüner Metallkasten, aus dessen Schloss ein rostiger Schlüssel herausragt.
„Vielleicht ein paar Fotos?“, frage ich. „Sie sind in Ihrem Schrank dort drüben.“
„Nein, ich brauche nichts. Haben Sie den Pass?“
„Ja.“
„Wo ist er?“
„Hier, in einem Klarsichtbeutel.“
„Ich muss nachsehen.“ Er sieht nach.
Vom Bett nehmen wir eine Plüschdecke mit Rosen und ein Kopfkissen. Ich hole die Freiwilligen, sie überlegen, wie sie Juri Nikolajewitsch heruntertragen. Draußen sind Explosionen zu hören, aber niemand von uns beeilt sich. Wir verstehen, dass es nicht in der Nähe ist. Das Zimmer ist ein einziges Durcheinander. Auf dem Tisch liegen zwei Baguettes, woher auch immer.
„Ljudmila“, frage ich, „warum ist er so mager?“
„Er hat fast aufgehört zu essen. Als seine Frau gegangen ist, hat sie versucht, ihn zu überreden, mit ihr zu gehen, aber er hat immer wieder gesagt: Morgen, morgen. Irgendwann hat sie es nicht mehr ausgehalten, sie ist zu ihrer Tochter gegangen und hat ihm den Kühlschrank voller Essen und allerlei andere Lebensmittel hinterlassen. Doch er hat nichts angerührt.“
Juri Nikolajewitschs Frau glaubte, er würde nachkommen, aber er kam nicht. Dann funktionierten die Handys nicht mehr, die Familie konnte ihn nicht mehr erreichen. Und so lag er Tag für Tag da und wartete auf das Ende – von was auch immer.
„Juri Nikolajewitsch, mein Lieber, wir legen Sie auf eine Decke, die Jungs nehmen sie von vier Seiten, und dann …“
„Nein“, sagt er plötzlich. „Ich gehe selbst. Wo ist der Pass?“
„Er ist hier, und der Safe auch. Beeilen wir uns, ja?“
Ich helfe ihm beim Anziehen, er fragt noch einmal nach dem Pass, und schließlich verlassen wir vorsichtig die Wohnung. Die Freiwilligen stützen Juri Nikolajewitsch, er geht langsam die Treppe hinunter. Ljudmila und ich tragen seine Sachen. Wir legen ihn auf Matratzen und decken ihn mit der Decke mit Rosen zu.
Juri Nikolajewitsch ist der letzte evakuierte Einwohner von Lyssytschansk. Am nächsten Tag lässt das Militär niemanden mehr in die Stadt, es ist zu gefährlich.
Wir fahren nach Pokrowsk und besteigen den Evakuierungszug, ich fahre nach Dnipro, er nach Lwiw. Der Zug ist voll. Im nächsten Waggon sitzt Raissa Wassiljewna, die im April 1945 in einem Lager in Deutschland geboren wurde, sie fährt zum Krankenhaus für Kriegsveteranen. Ihr gegenüber erlebt der zehn Monate alte Jaroslawtschik seine allererste Evakuierung. Ich hätte nie gedacht, dass ich den Kreislauf der Geschichte so direkt sehen würde.
Ich steige in Dnipro aus und verabschiede mich von Juri Nikolajewitsch. Er steht auf, hält sich am Tisch fest und sagt zu mir, sichtlich besorgt: „Warten Sie, Vika, ich wollte Ihnen sagen: Sie sind eine sehr schöne Frau!“
Er wird leben, denke ich mir. Er wird leben.
Wir umarmen uns zum Abschied, ich steige aus dem Evakuierungszug. Dann zerbricht etwas in mir, ich setze mich auf die Stufen des Bahnhofs von Dnipro und weine lange, um uns alle, die wir vom Krieg versehrt sind.
Seit Anfang Juli steht Lyssytschansk unter russischer Kontrolle. Zuletzt konnte die ukrainische Armee strategisch wichtige Gebiete im Donbass zurückerobern. Sie bewegt sich derzeit offenbar auch auf Lyssytschansk zu.