Als der Preis für Kaffee rapide steigt und der Döner plötzlich fünf oder sechs statt 3,50 Euro kostet, spüren auch in Deutschland die Ersten den Inflationsdruck. Im Juni 2022 war die Inflationsrate für Lebensmittel in Deutschland mit 12,7 Prozent so hoch wie seit 30 Jahren nicht mehr. Lebensmittel sind besonders betroffen. Die Preise steigen weiter – nicht nur in Deutschland, sondern weltweit.
Verzicht auf Kaffee und Döner: Das wären Luxusprobleme für Menschen in anderen Teilen der Welt. Während in Deutschland der Lebensstandard vieler sinkt, haben Menschen in einigen Entwicklungs- und Schwellenländern es zunehmend schwerer, sich Grundnahrungsmittel wie Brot oder Reis zu leisten. Längst warnen Entwicklungsorganisationen wie die Weltbank: Eine Hungerkrise bahnt sich an. Das belegen auch Daten.
Zwischen Mai 2020 und Februar 2022 stieg der Lebensmittelpreisindex der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) der Vereinten Nationen um 55,2 Prozent. Der Index misst jeden Monat, wie sich die Weltmarkt-Preise von 55 Lebensmitteln entwickeln.
Der Grund dafür ist die Inflation. Für sie macht mancher Politiker den Ukraine-Krieg verantwortlich. „70 Prozent des Inflationsanstiegs sei die Folge von Putins Preiserhöhungen“, sagte US-Präsident Joe Biden zum Beispiel im April bei einer Rede an einer Universität in North Carolina. In Polen sprach Jaroslaw Kaczynski, Vorsitzender der rechtsnationalen PiS-Partei, im Juli sogar von einer „Putinflation“. Der Angriffskrieg Russlands ist aber nur eines von vielen Problemen, das zu der globalen Inflation geführt hat, die den Welthunger in den kommenden Jahren verstärken könnte.
Auch die Coronapandemie trug dazu bei, dass Lebensmittelpreise steigen. Nachdem Lockdowns die Wirtschaft schwächten, stieg in den Monaten danach die Nachfrage nach Metallen wie Kupfer und Stahl, zum Beispiel, weil aufgeschobene Bauprojekte nachgeholt wurden. Lockdowns unterbrachen außerdem die Lieferketten einiger Produkte. Die Ölpreise sprangen 2021 um 67 Prozent in die Höhe. All das trieb auch die Preise für Lebensmittel und Rohstoffe in die Höhe, die nicht direkt von Corona-Auswirkungen betroffen waren. Denn um Rohstoffe zu verarbeiten wird Energie benötigt. Der Ukrainekrieg hatte da noch nicht einmal begonnen.
Ärmere Länder und solche, die bereits instabil waren, bekamen die Folgen der durch Corona geschwächten Weltwirtschaft besonders schnell und intensiv zu spüren. Die Weltbank schrieb bereits im Juni 2021 in einem Blogeintrag: „Ein weiterer Anstieg der Inflation, insbesondere aufgrund höherer Lebensmittelpreise, könnte eine zusätzliche Bedrohung für die Ärmsten der Welt darstellen, zusätzlich zu den erheblichen wirtschaftlichen Schäden durch die Pandemie.“
Wer von steigenden Lebensmittelpreisen am stärksten betroffen ist, hängt auch damit zusammen, wie viel Geld Menschen anteilig für Lebensmittel ausgeben. Das unterscheidet sich je nach Land, wie die Weltkarte zeigt.
Rechnet man beispielhaft bei zwei Ländern nach, so wird das Problem noch deutlicher. In Pakistan zum Beispiel gab ein durchschnittlicher Bürger 2018 die Hälfte seines Geldes für Lebensmittel aus. Bei einem durchschnittlichen Deutschen waren es 2018 laut Statistischem Bundesamt 19 Prozent. Angenommen, Lebensmittelpreise würden weltweit um 10 Prozent teurer, müsste ein Pakistaner plötzlich 55 Prozent seines Einkommens für Lebensmittel ausgeben. Denn pakistanische Haushalte müssen dann fünf Prozentpunkte mehr für Essen ausgeben – Geld, das woanders fehlt.
Der Deutsche müsste auch etwas mehr bezahlen. Aber in der Beispielrechnung würde er fortan 20,9 statt zuvor 19 Prozent seines Einkommens für Essen ausgeben: Der Effekt ist in Deutschland deutlich geringer. Hinzu kommt, dass Deutsche eher Geld zurücklegen können als Menschen in armen Ländern. Viele sparen nun vielleicht weniger, können ihren Lebensstandard aber halten.
Hinzu kommt, dass der Ukraine-Krieg Nahrungsmittel verknappt, die in armen Ländern besonders wichtig sind. Getreide wird deutlich teurer, weil die Ukraine ein wichtiger Weizen-Exporteur ist und die Häfen derzeit blockiert sind. Im Mai 2022 lag der Weizenpreis um 67 Prozent höher als im Vorjahresmonat. Auch der Preis für Mais stieg.
Damit nicht genug. Der Krieg verteuert auch Nahrungsmittel, die dort nicht angebaut werden. Denn er hat die Energiekosten in die Höhe getrieben und die Versorgung mit Düngemitteln, für deren Herstellung Gas benötigt wird, verunsichert. Reis, in weiten Teilen Asiens ein Grundnahrungsmittel, wird zwar nicht in der Ukraine angebaut, wegen der steigenden Energiepreise wird aber erwartet, dass er sich aufgrund der steigenden Energiekosten verteuern wird.
Angesichts der hohen Energiekosten kam es in Ländern wie Indien, Sri Lanka, Peru, Ägypten und anderen zu Protesten. Oxfam warnte im April, dass aufgrund der steigenden Lebensmittel- und Brennstoffpreise rund eine Viertelmilliarde Menschen mehr von Armut betroffen sein werden.
Auch wenn der Ukraine-Krieg also nicht der Auslöser steigender Lebensmittelpreise ist, hat er die Lage weiter verschlimmert. Ökonomen der Weltbank schätzen, dass der Wohlstand der Haushalte in 43 von 53 untersuchten Entwicklungsländern wahrscheinlich sinken wird. Das schrieben sie im April 2022 auf dem Blog „Vox EU“.
Angesichts der dramatischen Lage mit Blick auf die globale Lebensmittelversorgung ist es kein Wunder, dass die Lebensmittelinflation ganz oben auf der Tagesordnung der G20-Finanzminister stand, als sie sich Mitte Juli 2022 auf der indonesischen Insel Bali trafen. Immerhin schien die Sorge um die Lebensmittelpreise groß zu sein: Man nehme das Risiko der Ernährungsunsicherheit ernst, hieß es in einer Erklärung des Vorsitzes.
Diese Äußerung des Vorstands ist allerdings nicht verbindlich. Eine gemeinsame, verbindliche Erklärung zur Lebensmittelsicherheit gaben die G 20 nicht ab. Sie erzielten auch keinen Konsens über Sanktionen gegen Russland im Zusammenhang mit Lebensmitteln.
Dabei könnten die G20 konkret Einfluss nehmen auf die mögliche Entwicklung einer Nahrungsmittelkrise nehmen. Erstens könnten sie zumindest entscheiden, selbst Lebensmittelexporte nicht mehr einzuschränken. Zweitens könnten sie die eigenen Leitzinsen erhöhen.
Als es auf dem Weltmarkt eng zu werden drohte, reagierten viele Staaten mit Exportverboten oder -einschränkungen, noch immer verbieten 20 Länder Ausfuhren von insgesamt 30 Produkten in andere Länder. Vier der 20 Länder sind G20-Staaten: Argentinien, Indien, Russland und die Türkei.
Das Kalkül hinter Exportbeschränkungen und -verboten: Sicherstellen, selbst genügend von einem Rohstoff zu haben, wenn er auf dem Weltmarkt knapp wird. Als der Ukraine-Krieg ausbrach, waren das etwa Weizen und Öl. Dahinter steht auch der Wunsch der Staaten, Inflation im eigenen Land zu verhindern – wenn Produkte knapp sind, steigen die Preise, Inflation droht. Aber Exportrestriktionen können den Hunger in der Welt verstärken. Denn Länder, die von Importen abhängen, bekommen dann nicht genug.
Die Weltbank ist besorgt darüber. „Exportbeschränkungen sind aus zwei Gründen schlecht“, sagte der Weltbank-Ökonom John Baffes dem Tagesspiegel. Erstens würden dadurch entstehende Knappheiten Essen teurer machen. „Vor allem für Länder mit niedrigen Einkommen ist das ein Problem, denn dort geben die Einwohner einen höheren Prozentsatz ihres Einkommens für Essen aus.“ Dieser steigt entsprechend stärker, die Leute werden ärmer. „Zweitens kann die Knappheit, die Exportbeschränkungen verursachen, zu Panikkäufen führen oder dazu, dass Händler ihre Ware nicht verkaufen, sondern vorerst einbehalten“, sagt Baffes. Das kann Preissteigerungen in armen Ländern weiter anheizen.
Internationale Organisationen haben das Problem bereits adressiert. Die geschäftsführende Direktorin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Kristalina Georgieva, forderte die G20-Länder auf, ihre Beschränkungen für Lebensmittelexporte unverzüglich aufzuheben. Sie seien schädlich und für die Stabilisierung der Inlandspreise unwirksam. Auch Weltbank, Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation, das Welternährungsprogramm und die Welthandelsorganisation empfehlen das.
Es könnte helfen. Immerhin hat die Krise von 2008 gezeigt, dass globale Handelsbeschränkungen zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise führen: Daten der Weltbank und von Global Trade Alert zeigen, dass von Anfang bis Mitte 2022 74 exportbeschränkende Maßnahmen von Volkswirtschaften ergriffen wurden, von denen zwei Drittel vollständige Exportverbote waren. Allein Russlands Exportverbote machten in dem untersuchten Zeitraum 86 Prozent des Preisanstiegs bei Mais und 83 Prozent bei Weizen aus. Die Türkei trug mit fast 99 Prozent zum Gesamtpreisanstieg bei Zitrusfrüchten bei, Indien mit 98 Prozent zum Preisanstieg bei Reis.
Von den G20 scheint bisher nur Indonesien diesen Schritt zu gehen. Überraschend hab das Land ein Export-Verbot für Palmöl auf.
Es gibt eine zweite Möglichkeit, noch höhere Lebensmittelpreise und somit noch mehr Hunger zu verhindern: Die Inflation selbst zu verhindern. Eine Möglichkeit, die Staaten haben, ist die Erhöhung des Leitzinses. Etwa drei Viertel der Zentralbanken haben das bereits gemacht. Ganz einfach erklärt, wird erwartet, dass ein höherer Leitzins die Nachfrage reduziert und die Inflation senkt – hier ist die Erklärung der EZB selbst.
Allerdings birgt eine Leitzins-Erhöhung Risiken. Siewerden verringert die Investitionen und das Wachstum, was mit den politischen Interessen der Staaten kollidiert – und das Risiko einer Rezession birgt. Dann könnte noch eine weitere Krise obendrauf kommen.