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Internet-Sperren im Iran

Blackouts gegen die Freiheit

Menschen im Iran fordern das Ende der Islamischen Republik. Die blockiert immer mehr Kommunikation im Netz und will ein „nationales Internet“ errichten. Grafiken zeigen, wie weit das Regime dabei schon geht.
Menschen im Iran fordern das Ende der Islamischen Republik. Die blockiert immer mehr Kommunikation im Netz und will ein „nationales Internet“ errichten. Grafiken zeigen, wie weit das Regime dabei schon geht.

Wenn sich Informationen nicht mehr frei bewegen können, bleiben nur alte Kommunikationswege. Kuriere zum Beispiel. In Paveh im kurdischen Nordwesten des Iran funktioniert das Internet nicht. Also steigt ein junger Mann ins Auto und fährt 120 Kilometer nach Kermanshah – nur, um von dort ein Video in andere Länder zu schicken. Das war am 21. September. Mittlerweile hat Paveh seit zwei Wochen kaum Internet: digitaler Blackout.

In der Region starb kürzlich die 22-jährige Mahsa Amini in Polizeigewahrsam. Mutmaßlich wurde sie gefoltert, weil ihr Kopftuch falsch saß. In ganz Iran gehen seitdem Menschen auf die Straße. Mit welcher Gewalt das Regime kontert, wird seither regelmäßig berichtet. Was kaum Thema ist: Die iranischen Behörden üben zunehmend auch digitale Gewalt aus.

Seit Beginn der Proteste am 19. September melden Analysten Internetsperren, besonders viele aus Kordestan, eben jener Region im Nordwesten. Ohne Internet können Menschen sich schlechter organisieren. Und die Außenwelt sieht die staatlichen Verbrechen nicht mehr. So wie in der Nacht zu Montag. Sicherheitskräfte riegelten die Sharif-Universität in Teheran ab, verhafteten und verprügelten Studierende und Professoren. Bilder und Videos davon erreichten die Außenwelt nur stückhaft, teils verspätet. Auch, weil ab 16 Uhr eine Art Internet-Sperrstunde errichtet wurde.

Im technischen Wettlauf gegen den Widerstand der Menschen im Iran geht das Regime immer harscher vor. Dabei greift es zunehmend tiefer in die Infrastruktur des Internets ein:

Daten ermöglichen einen Blick auf einige Zahnräder des digitalen Unterdrückungssystems im Iran. Mithilfe von Grafiken erklären wir, wie die Internet-Zensur funktioniert und wie die Menschen sich wehren.

Abgeschnittene Kommunikationswege

Gesperrte Seiten und Chatprogramme, Foren, die plötzlich verschwinden: Das ist für Iraner*innen nichts Neues. Seit 2018 müssen iranische Provider etwa Telegram blockieren. Auch Facebook, Twitter, Viber und viele weitere Kommunikationsmittel sind gesperrt.

Mit Beginn der aktuellen Proteste kamen nun Whatsapp, Instagram und Linkedin hinzu. Das zeigen Daten des Open Observatory of Network Interference (OONI). Freiwillige messen kontinuierlich, welche Websites wo auf der Welt gerade nicht erreichbar sind. Im Iran werden es immer mehr.

Whatsapp und Instagram verschwinden aus dem iranischen Internet
Jeder graue Datenpunkt ist ein erfolgloser Versuch, die Website zu erreichen. Viele davon sind ein recht sicheres Indiz, dass die Seite in dem Land nicht erreichbar ist. Ist sie von woanders aus weiterhin erreichbar, spricht das für Zensur. Bei Fehlversuchen können Anwendungs-Fehler nicht ausgeschlossen werden.
Hintergrund
Wie sich Website-Sperren erkennen lassen

Aus den OONI-Daten lässt sich mit wenig Zeitverzögerung erkennen, wenn eine Internetseite in einem Land nicht funktioniert. OONI ist ein Projekt von Freiwilligen, die eine App oder ein Programm auf ihrem Gerät installieren. Die Anwendung prüft, ob sich die Website von dem Gerät erreichen lässt oder nicht, und schickt das Ergebnis automatisch an OONI.

Je nach Einstellungen läuft sie im Hintergrund, circa einmal pro Stunde, und versucht, einige Websites zu erreichen. Alternativ können Nutzer*innen das Programm manuell aktivieren und bestimmte oder zufällig gewählte Websites testen. Treten viele Störungen einer bestimmten Website auf einmal auf, aber nur in einem Land, ist das ein starkes Indiz dafür, dass die Seite dort nicht erreichbar ist.

Pro Tag kamen bereits vor den Protesten rund 50.000 Datenpunkte zusammen, die aus dem Iran geschickt werden. Seit dem Beginn der Shutsdowns sind es mehr geworden – und das, obwohl nicht alle noch Internet haben. Das sei üblich, sagt OONI-Datenanalyst Simone Basso: Sobald ein Land Internet-Restriktionen verstärke, würden die Menschen im Land versuchen, die OONI-Programme häufiger laufen zu lassen. Wirken die Shutdowns nur in einigen Regionen oder zu bestimmten Zeiten, gebe es dann trotzdem mehr Datenpunkte. Erscheinen trotz einer gemessenen Sperre wenige erfolgreiche Verbindungs-Versuche, spreche das laut Basso für Serverprobleme bei der Zensur. „Es könnte sein, dass der Zensurmechanismus nur für IP-Adressen funktioniert, die typischerweise im Iran verwendet werden. Oder es könnte sein, dass es wenige Fälle gibt, in denen die Leute Verbindungen schneller aufbauen können, als das System zensieren kann.“

Die Daten zeigen: Immer mehr Kommunikationskanäle fallen weg. Verantwortlich für die Sperren ist der 2012 von Diktator Ayatollah Khamenei errichtete „Hohe Rat für den Cyberspace“. Dessen selbsterklärtes Ziel ist ein „Halal-Internet“. Eine Analyse der persisch-sprachigen, in London ansässigen Zeitschrift „Iran International“ ergab 2019, dass 35 Prozent der 100 meistbesuchten Websites der Welt im Iran blockiert sind. OONI-Daten zufolge sind es Seiten wie:

Das Internet, das Menschen im Iran sehen, unterscheidet sich deutlich von dem in Deutschland. Dass aber nun plötzlich niemand im Land mehr Whatsapp und Instagram benutzt, ist unwahrscheinlich. Telegram etwa nutzen trotz seit 2018 bestehender Sperre schätzungsweise 45 Millionen Menschen im Land, meldete die iranische Statistikbehörde im September 2021.

Denn die Menschen im Iran versuchen, sich gegen die digitale Gewalt zu wehren. Mithilfe von „Virtual Private Networks“ (VPN) erreichen Menschen gesperrte Domains. Unter jungen Leuten gibt es i der Islamischen Republik kaum jemanden, der keinen VPN nutzt. Seit den Protesten werden es offenbar noch mehr.

Iraner finden Wege, die Sperren zu umgehen
Die erste Grafik zeigt das Suchinteresse für „VPN“ bei Google, die zweite, wie viele iranische Tor-User es gibt.
Daten: Google Trends
Daten: Tor Metrics

Das Suchinteresse für „VPN“ ist seit Beginn der Proteste stark angestiegen. Ein VPN tarnt den Traffic eines Nutzers und leitet ihn in ein anderes Land und somit durch die Sperren. Solchen Traffic zu filtern, ist für das Regime technisch schwierig. Auch der Tor-Browser wird populärer. Er verwendet ein ausgeklügeltes, dezentrales System, um Zensur schwieriger zu machen.

App-Store-Sperren

Das Regime kontert, indem es die Zugangswege zu den VPN verstellt. Seit Beginn der Proteste sind im Land App-Store-Zugänge blockiert. Das geht aus einer aktuellen OONI-Analyse hervor. Von einem Android-Telefon ist derzeit beim drittgrößten Anbieter Irancell zwar der „Playstore“ erreichbar, nicht aber der Server, auf dem viele Apps liegen. Ähnlich beim App-Store von Apple: Er ist den Daten zufolge meist erreichbar, viele der Server, auf denen die Apps liegen, aber nicht.

Menschen können dann ohne VPN keine Apps mehr herunterladen, auch keine VPN-Apps. Sie müssen also versuchen, einen Weg zu finden, ohne App-Store an die Apps – oder zumindest an eine VPN-App – zu kommen. Bloß hat nicht jeder auf seinem Handy die Rechte, Apps ohne Store zu installieren, außerdem ist es komplizierter.

Internet-Sperrstunde von 16 bis 0 Uhr

Fällt das gesamte Netz aus, hilft jedoch auch kein VPN. Auch zu diesem Mittel greift der iranische Staat. Landesweit gebe es derzeit „eine Art Internet-Sperrstunde“, sagt Alp Toker, Analyst der Monitoringgruppe „Netblocks“, dem Tagesspiegel. Seit dem zweiten Tag der Proteste am 19. September 2022 fällt täglich das Internet aus, immer ungefähr von 16 Uhr bis 0 Uhr.

Das IODA-Projekt des Georgia Institute of Technology misst Sperren wie diese. Ihre Server versuchen kontinuierlich, Server in anderen Ländern zu erreichen. Sind sie nicht erreichbar, ist das ein Indiz für eine Störung. Im Iran ist das offenbar während der „Sperrstunde“ der Fall.

Netzwerk-Erreichbarkeit im Iran
Die blaue Linie zeigt, wie viel Prozent der iranischen sogenannten Border-Gateway-Protocol-Routen erreichbar sind. Die rote Linie zeigt Ergebnisse eines sogenannten „Active Probing“, also von Aufruf-Tests von Websites.
Daten: Georgia Institute of Technology/IODA
Daten: Georgia Institute of Technology/IODA

Nachmittags und abends sind die iranischen BGP-Routen häufig nicht erreichbar, auch bei aktiven Tests treten Störungen auf. Netzwerk-Ausfälle können das ganze Land oder einzelne Regionen betreffen. Im Iran konzentrieren sie sich „auf die Epizentren der Proteste“, sagt Netblocks-Analyst Toker. „Insbesondere in und um Sanandadsch in der iranischen Provinz Kordestan“ registriere man überdurchschnittlich viele – aber auch aus dem Rest des Landes. Meng vom IODA-Projekt bestätigt das.

Hintergrund
Wie misst man Netzwerk-Zensur?

„BGP“ steht für „Border Gateway Protocol“. Die Routen sind so etwas wie die Straßenkarten des Internets. Sie sind auf großen Routern in Rechenzentren gespeichert. Sie weisen den Weg in einen Teil des Internets und hinaus, zum Beispiel in den iranischen. Sind sie nicht erreichbar, ist es unmöglich, eine Website dort zu finden – oder dort herauszufinden. Der Iran kann dann keine Daten mehr mit der Welt austauschen. Höchstens ein paar lokale Websites sind für die Menschen im Land dann noch erreichbar.

Nachts sinkt die Erreichbarkeit der iranischen BGP-Routen von 100 auf bis zu 90 Prozent. Das klingt nach wenig, sei aber relevant, sagt Amanda Meng, Datenanalystin beim IODA-Projekt – vor allem in Kombination mit einem zweiten Indikator, dem „Active Probing“.

BGP ist ein Teil des Internets, „Active Probing“ hingegen eine Technik, mit der man Netzblockaden misst. Während BGP eine Straßenkarte im Bücherregal ist, auf die man schaut, um von Berlin nach Paris zu fahren, steigt man beim „Active Probing“ ins Auto und fährt nach Paris: Man versucht, Websites zu öffnen. Schwankungen sind beim „Active Probing“ normal, denn nachts werden viele Server ausgeschaltet – auch in Deutschland.

Verändert sich die Form der Kurve allerdings plötzlich, ist das problematisch, ein wenig wie bei einer Herzfrequenz-Kurve. Im Iran treten derzeit Rhythmusstörungen auf: Die Active-Probing-Kurven haben seit Beginn der Proteste nachmittags Dellen. Gemeinsam mit den BGP-Störungen erlaube das Meng zufolge die Schlussfolgerung, dass das Internet ab nachmittags massiv gestört ist.

Netzwerk-Sperren haben im Iran Geschichte. 2019 schaltete der Staat während Protesten das komplette Internet für fünf Tage ab. Sobald die Welt nicht mehr auf digitalem Weg ins Land blicken konnte, schlug das Regime die Proteste brutal nieder. 1500 Menschen wurden Schätzungen zufolge innerhalb einer Woche getötet.

Üblicherweise setzen die sogenannten Internet Service Provider (ISPs) Sperren wie diese um. Das sind Unternehmen wie in Deutschland die Telekom oder Vodafone. Im Iran heißen die größten Mobile Communication Company of Iran, Iran Telecommunication Company und Irancell. Alle drei stehen unter staatlicher Kontrolle.

Die Great Big Firewall of Iran

Bald könnte es noch schwieriger werden, die staatliche Zensur zu umgehen. Das Land schottet sein Netz mit immer aufwändigeren Mitteln ab, wie neue Analysen zeigen. Der IT-Sicherheitsforscher Barrett Lyon hat eine Grafik des Internets entwickelt, eine Art Straßenkarte des World Wide Web. Eine Visualisierung des Projekts von 2003 wurde im Museum of Modern Art in New York ausgestellt.

Auf Anfrage des Tagesspiegel Innovation Lab hat Lyon eine aktuelle Version dieser Netzwerk-Karte erstellt. Der iranische Teil sitzt ganz am Rand der Karte. Er ist also vergleichsweise isoliert.

Diese Internet-Karte zeigt, wie prekär die Anbindung des Iran ist
Die Grafik visualisiert BGP-Routen und zeigt alle Pfade von einem Punkt im Internet zu allen anderen. Je zentraler ein Knoten, desto besser ist er mit dem Rest des Netzwerks verknüpft – und desto unabhängiger ist er von einzelnen Kontroll-Punkten. Die Farben stehen für Weltregionen.
• Europa und Westasien • Ost- und Südasien / Pazifik • Nordamerika • US-Militär • Lateinamerika • Afrika

Die Visualisierung zeigt, wie gut bestimmte Teile des Internets mit dem globalen Netz verknüpft sind. Je zentraler ein Teil davon in der Grafik, desto mehr Wege hat ein Nutzer, der von dort startet, in andere Regionen zu reisen. Ein gut verknüpfter Teil des Netzes ist weniger störungsanfällig – ist eine Region gestört, gibt es ausreichend Alternativrouten.

Ist ein Teil des Internets isoliert, gibt es von dort aus also nur wenige Wege nach Außen, kann das heißen, dass der Staat die Verbindungspunkte kontrolliert. Dann muss der meiste – oder der ganze – Traffic über zentrale Punkte. Sind es nur wenige, können sie kontrolliert oder auch abgeschaltet werden.

Im Iran funktioniert das Internet zunehmend so. „Das gesamte Internet des Landes läuft durch TIC“, sagt Lyon. „TIC“, das ist die staatliche, relativ neue Telecommunication Infrastructure Company.

Alles muss an einer staatlichen Stelle vorbei
Die Struktur des iranischen Internets im Detail. Die großen Knoten symbolisieren die Internet Service Provider, die Linien die Verbindungen zwischen ihnen.

Der Name „Telecommunication Infrastructure Company“ erscheint erst seit 2018 in Google-Suchergebnissen. Das spricht dafür, dass TIC relativ neu ist. Auch in Lyons Analysen taucht sie erst neuerdings auf: „Sie wurde 2019 bis 2020 schrittweise eingeführt und ging 2021 in Betrieb.“

Lyon wertet das als einen Schritt in Richtung mehr Abschottung, TICs Vorgänger ITC (kurz für Information Technology Company) sei noch etwas besser an das nicht-iranische Internet angeschlossen gewesen. Jetzt laufe der gesamte iranische Internet-Traffic über einen einzigen Punkt: TIC. Der Vergleich über die Jahre zeigt, wie der Iran noch weiter an den Rand des Netzes gerückt ist.

Die Anbindung des Iran ans globale Netz wird fragiler
Visualisierung des iranischen Internets von Ende September 2016, 2019 und 2022

„Es ist ein solider Würgegriff für die Kommunikation ins Land und aus dem Land hinaus“, sagt Lyon, der das iranische Internet bereits während der Proteste 2019 in einem Video dargestellt hat.

Läuft das Internet nur noch über wenige zentrale Stellen, wie etwa in China, ist es fast unmöglich für die Menschen, in die Außenwelt zu kommunizieren, wenn der Staat das unterbinden möchte. Auch VPNs helfen dann nicht mehr. In einem Video dazu erklärt Lyon uns mehr zur fortschreitenden Abschottung des Iran vom globalen Internet:

Tatsächlich ist es erklärtes Ziel des iranischen Staates, ein möglichst national begrenztes Datennetz aufzubauen. Das sogenannte „National Information Network“ wird derzeit aufgebaut, Irans Informations- und Kommunikationsminister Eisa Zarepour sagte vergangenes Jahr, bis 2025 solle es fertig sein. Offiziell soll das staatlich kontrollierte Intranet eine Ergänzung zum globalen Internet sein. Viele aber befürchten, dass es sein Ersatz werden soll.

Bis dahin gibt es, zumindest manchmal, Wege, die staatliche Zensur zu umgehen. Per Whatsapp erreicht das Video aus Paveh, für das ein junger Mann 120 Kilometer fuhr, einen Exil-Iraner in den Niederlanden. Die verwackelte, pixelige Aufnahme zeigt ein brennendes Auto auf einer schmalen Straße. Man kann kaum etwas erkennen.

Das Team

Nina Breher
Recherche und Text
Hendrik Lehmann
Koordination und Redigatur
David Meidinger
Webentwicklung
Lennart Tröbs
Design
Veröffentlicht am 6. Oktober 2022.
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