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Keine warme Weihnacht

Die Gaskrise könnte die Wohnungsnot in vielen Städten weiter verschärfen

Schon vor der russischen Invasion zahlten viele Menschen zu viel von ihrem Einkommen für Wohnen. Manche können ihre Wohnung nicht heizen. Die steigenden Gaspreise könnten das verschärfen. In einigen Städten steigen sie besonders.
Schon vor der russischen Invasion zahlten viele Menschen zu viel von ihrem Einkommen für Wohnen. Manche können ihre Wohnung nicht heizen. Die steigenden Gaspreise könnten das verschärfen. In einigen Städten steigen sie besonders.

Ob Kino, Youtube oder TV: Gänse kommen aus dem Ofen, Kerzen auf den Tisch, Feuer in den Kamin, überall ist ganz viel Licht. Die Weihnachtswerbung läuft wieder. Sie versucht auch in diesem Jahr, ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit zu vermitteln – und die Weihnachtseinkäufe anzukurbeln. Lediglich: Für viele Menschen wird das dieses Jahr leider nicht so laufen.

Zwei grundsätzliche Dinge – geborgenes Wohnen und wohlige Wärme – stehen seit der Energiekrise für viele in Europa noch mehr auf dem Spiel als zuvor. Das zeigen aktuelle Daten europäischer Institutionen und Firmen zu Wohnungskrise, Heiznot und steigenden Gaspreisen. Sie machen sichtbar, in welchen Ländern und Städten diesen Winter besonders viele ein kaltes Zuhause fürchten müssen – und warum Energiekrise und Wohnungskrise sich gegenseitig weiter verschärfen könnten.

Was die Wohnungskrise mit Heizen zu tun hat

Ungefähr 23 Prozent ihres verfügbaren Einkommens geben die Deutschen durchschnittlich für Wohnen aus. Das ergibt ein regelmäßiger europaweiter Zensus der EU-Statistikbehörde Eurostat zur Wohnsituation. Dabei sind Menschen, die zur Miete leben oder die einen Wohnungskredit abbezahlen, in der Statistik zusammengefasst. Deutschland liegt bei den Wohnkosten im europäischen Vergleich weit oben. In den meisten anderen Ländern zahlen die Menschen weniger.

30 Prozent gelten als Scheidepunkt. Wer mehr seines Einkommens für die Miete ausgeben muss, hat nicht mehr viel zum Leben übrig. Das sehen Sozialwissenschaftler*innen und Vermieter*innen ähnlich. Für weniger bekommt man meist keine neue Wohnung mehr. Geben Menschen sogar mehr als 40 Prozent des verfügbaren Einkommens für Wohnen aus, nennen die EU-Statistiker das „Wohnkostenüberbelastung”. Wohnen wird zum Armutsrisiko. Auch hier liegt Deutschland recht weit vorne.

In Griechenland, dem Vereinigten Königreich und vielen Ländern auf dem Balkan ist es allerdings noch schlimmer. Dort kommt ein Problem hinzu, das in Deutschland noch recht selten ist: Energiearmut. Wenn nach Miete und sonstigen Kosten nicht mehr viel übrig bleibt, können viele sich nicht mehr leisten, ihren Wohnraum angemessen zu heizen.

Bei all den Werten in der Karte handelt es sich um Durchschnittswerte der Bevölkerung in ganzen Ländern. Hier sind nicht nur sehr Reiche und ganz Arme zusammengefasst, sondern auch alle Altersgruppen. Alleinerziehenden in Deutschland beispielsweise geben durchschnittlich knapp 30 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen aus, über 65-Jährige 31 Prozent und alleinstehende Frauen knapp 33 Prozent. Menschen, die als armutsgefährdet gelten, zahlen sogar fast 50 Prozent ihres Einkommens fürs Wohnen.

Dieses Phänomen findet sich fast überall in Europa wieder. Auch der Anteil derer, die über 40 Prozent für Miete oder Wohnungskredit ausgeben, ist in den meisten Ländern noch wesentlich höher, wenn man Ältere oder Alleinerziehende gesondert betrachtet. Und genau dieselben Bevölkerungsgruppen sind es, die es sich oft nicht leisten können, adäquat zu heizen.

Der Grund, warum Deutschland bisher keine großen Probleme mit Heizarmut hat, ist der Sozialstaat. Im Gegensatz zu anderen Ländern werden die Heizkosten, beispielsweise bei Arbeitslosen, vom Staat übernommen. Gleichzeitig ist Deutschland laut Eurostat-Daten von 2020 allerdings eines der Länder, in denen die mittleren Einkommensgruppen einen der größten Anteile ihres Einkommens für Benzin, Strom und Heizen ausgeben.

Die Umfragen, die den obigen Grafiken zugrunde liegen, wurden 2021 durchgeführt. Aktuellere Daten dazu gibt es bislang nicht. Aber neuere Daten zu den Preissteigerungen bei Energie und Gas legen nahe, dass sich die Situation dieses Jahr extrem verschärft hat. So sind die Gaspreise für Haushalte in Bulgarien beispielsweise allein im ersten Halbjahr 2022 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um über 100 Prozent gestiegen, in Litauen um 110 Prozent. In Nordmazedonien und Estland mussten die Menschen bereits 150 Prozent mehr für Gas bezahlen.

Auch hier sind das landesweite Durchschnitte. Die Menschen in europäischen Hauptstädten müssen oftmals noch stärkere Preissteigerungen verkraften. Die finnische Energieberatungsfirma Vaasa ETT hat uns auf Anfrage genauere Daten zu den Gaspreisen für Verbraucher in europäischen Hauptstädten bereitgestellt. Sie reichen bis Ende November 2022.

Was haben diese Preise nun mit der Wohnungskrise zu tun? Eine deutsche Studie der Humboldt Universität Berlin 2021 im Auftrag der Böckler-Stiftung hat etwa gezeigt, dass die Belastung mit Wohnkosten in Deutschland in Großstädten weit höher ist als in ländlichen Gebieten. Der Studie nach mussten circa 40 Prozent der Haushalte in deutschen Großstädten mehr als 30 Prozent ihres Nettoeinkommens ausgeben, um ihre Miete zu bezahlen. Das sind circa 8,6 Millionen Menschen in 5,6 Millionen Haushalten in Deutschland. Über eine Million Haushalte in deutschen Großstädten müssen sogar mehr als 50 Prozent ihres Einkommens für die Miete ausgeben.

In anderen europäischen Städten ist diese Lage noch weitaus drastischer. Das Projekt Eurocities, ein Zusammenschluss europäischer Bürgermeister für Energie und Klima, hat dazu Studien in Auftrag gegeben und will künftig aktuellere Daten für Städte zu Energiearmut sammeln. Jan Klusáček hat in deren Auftrag Erhebungen durchgeführt. Im Interview bietet er eine Erklärung dafür an, warum Wohnungskrise und Energiearmut in Städten besonders stark aufeinandertreffen.

Die Verwundbarkeit der Städte

Man könnte ja denken, dass Mieter*innen in der Stadt weniger Energie zum Heizen brauchen als Menschen auf dem Land in größeren alleinstehenden Häusern. Tatsächlich aber, so der Forscher, sind es sowieso durchschnittlich Ärmere Menschen, die in Städten und Mietwohnungen wohnen. Dazu komme aber, dass Mietshäuser oft nicht so stark modernisiert sind wie Häuser auf dem Land. Also braucht es sehr viel Energie, um die schlecht isolierten Wohnungen zu heizen. Und das bei Haushalten, die sowieso schon einen großen Teil ihres Einkommens für Energie ausgeben müssen.

Wie genau sich Wohnungskrise, Energiearmut und soziale Ausgleichsmaßnahmen genau vermischen, ist bisher schwer zu ermitteln. Je nach Gegend und Land sind staatliche Maßnahmen, vorherrschende Energieträger und soziale Zusammensetzung dermaßen unterschiedlich, dass es Jahre dauern wird, bis dazu genaue Studien vorliegen. Vor allem auch, weil es bisher kaum sinnvolle regelmäßige staatliche Erhebungen dazu gibt.

Um einen vagen Eindruck zu bekommen, in welchen Ländern die Mischung aus Wohnungsarmut, Energiekrise und Abhängigkeit von Gas besonders drastische Folgen haben könnte, zeigt die folgende Grafik die verschiedenen Faktoren auf einen Blick an. Es handelt sich dabei nicht um eine Studie, sondern um den vorsichtigen Versuch, das Problem greifbar zu machen.

Die Energiekrise hat das Potenzial, die soziale Spaltung einmal mehr zu vertiefen. In Deutschland beispielsweise verbrauchen reichere Haushalte sowieso mehr Energie als ärmere. Und die bisherigen Beihilfen entlasten Wohlhabende ebenfalls stärker als Ärmere. Während also Wohlhabende die Energiepreise stärker nach oben treiben als Ärmere, schaden sie den Schwächeren damit auch noch überdurchschnittlich.

Das gilt nicht nur national. Denn nur wenige europäische Länder, die das meiste Gas verbrauchen, sparen nun auch am meisten. Dabei können sich dort zumindest noch viele leisten, auch an diesem Weihnachten die Wohnung ordentlich zu heizen.

Dieser Artikel wurde als Teil des European Cities Investigative Journalism Accelerator produziert. Es ist ein Netzwerk europäischer Medien, das sich der Recherche gemeinsamer Herausforderungen europäischer Großstädte und Länder widmet. Das Projekt ist eine Fortführung der europäischen Recherche Cities for Rent und wird vom Stars4Media-Programm gefördert.

Das Team

Eric Beltermann
Webentwicklung
Kirk Jackson
Datenvisualisierung & Entwicklung
Gaby Khazalová
Datenrecherche
Hendrik Lehmann
Text & Recherche
David Meidinger
Webentwicklung
Veröffentlicht am 9. Dezember 2022.