Ob mit der U-Bahn, dem Auto, mit dem Rad oder zu Fuß: Jede Berlinerin, jeder Berliner nimmt am Verkehr teil. Verkehrspolitik betrifft alle – und sie ist ein Bereich, in dem Lokalpolitik konkret tätig werden kann. Aber ist sie es seit der Berlinwahl 2021 auch geworden?
Nach der Wahl war ein Aufbruch zumindest erahnbar. Die traditionell fahrradaffinen Grünen hatten so viele Stimmen wie nie zuvor erhalten, Spitzenkandidatin Bettina Jarasch (Grüne) löste ihre Parteikollegin Regine Günther als Verkehrssenatorin ab. Im Koalitionsvertrag bekannte sich die neue Regierung zumindest auf dem Papier „zur gerechten Verteilung der Flächen“: Mehr ÖPNV und mehr Radwege sollte es geben. Die „Vision Zero“, also eine Stadt ohne Verkehrstote, ist dort vermerkt.
Was hat Rot-Grün-Rot in den 500 Tagen seit der Berlinwahl 2021 erreicht? Ein Blick auf Verkehrsdaten von 2022 zeigt, dass es erste Anhaltspunkte für Fortschritt gibt. Er zeigt aber auch: Es gibt viele Faktoren, die ihn behindern – vor allem dann, wenn Daten unvollständig sind.
Auf Berlins Straßen wird es voller. 2022 stieg der Radverkehr deutlich an. In den Jahren zuvor war er laut Radverkehrsstellen-Jahresbericht 2021 der Senatsverwaltung für Verkehr leicht zurückgegangen. Sie führt die Entwicklung auf die Corona-Pandemie zurück. Nun ist er wieder ansatzweise auf Vor-Corona-Niveau – und übertrifft den der Jahre 2016 und 2017.
Die Daten der Fahrrad-Dauerzählstellen erfassen das ganze Jahr über vorbeifahrende Fahrräder. Aus ihr lassen sich laut Senatsverwaltung zwar „höchstens Tendenzen“ ablesen. Denn Messschwankungen wegen Baustellen und Wetter-Effekte wurden noch nicht herausgerechnet.
Eine statistisch bereinigte Auswertung für 2022 publiziert die Senatsverwaltung allerdings erst Ende Mai 2023. Trotzdem ist die Tendenz schon jetzt sichtbar: Es werden wohl mehr Radfahrer – und das, obwohl die lange defekte Zählstelle an der Oberbaumbrücke erst Ende Mai 2022 wieder in Betrieb ging. Die tatsächliche Zahl dürfte also sogar über dem 2019er-Wert liegen.
Führten mehr Radwege zu mehr Radfahrenden? Zwar wurden 2022 so viele Radwege fertig wie nie – aber viele davon wurden in der vergangenen Legislaturperiode geplant. Planungen dauern lang, und an der Umsetzung wirken die Bezirke mit – ebenso an der Instandhaltung der bereits gebauten Wege, die in dieser Statistik nicht gezeigt werden. Allgemein scheint es einen Aufwärtstrend zu geben, wie Daten des Senats und der Bezirke zeigen.
Allgemein scheint es einen Aufwärtstrend zu geben, wie Daten des Senats und der Bezirke zeigen.
Immerhin: So viele Radwege wie 2022 wurden nicht gebaut, seit das Mobilitätsgesetz verabschiedet wurde. Ob dieser Anstieg die Wende in der Verkehrswende markiert, bleibt abzuwarten.
Der Blick auf die Bezirke erfüllt dafür manches Klischee: Das linksgrüne Kreuzberg baut die meisten Radwege, das CDU-affine Marzahn-Hellersdorf die wenigsten. Aber auch wo Grüne seit Jahren als Stadträte für Verkehr zuständig sind, geht es unterschiedlich schnell: Wie in den Daten zu sehen ist, legt Neukölln neuerdings zu, in Mitte aber passiert immer weniger.
Wie wenig insgesamt in der Stadt passiert, zeigt eine Analyse des Vereins Changing Cities. Nur 4,2 Prozent der bis 2030 anvisierten Radwege existieren schon. Die Aktivist*innen sind selbst hingefahren und haben die Radwege vermessen und geprüft.
Die Senatsverwaltung nennt die Zahlen des Vereins „nicht ganz richtig“, schließlich seien „insgesamt rund 130 Kilometer“ gebaut oder verbessert worden. Aber auch das wären nur 4,6 Prozent der geplanten Wege. Dass Changing Cities und die Senatsverwaltung zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, liegt auch hier an unvollständigen Zahlen der Verwaltung. Die bei der Infravelo online abrufbaren Daten seien „noch nicht vollständig sind“, heißt es.
Nicht nur Radfahrende, auch Autos gibt es mehr. Seit Jahren steigt die Zahl der in Berlin zugelassenen Pkw kontinuierlich, zu ändern scheint sich das nicht.
Ob diese Autos in Berlin unterwegs sind und wie häufig die Autos am Verkehr teilnehmen, geht aus den Daten nicht hervor. Wie hat sich der tatsächliche Verkehr im vergangenen Jahr entwickelt?
Dazu fehlen Daten. Im Oktober berichtete die Senatsverwaltung zwar von einer „leichten Zunahme des Verkehrsaufkommens“ im Vergleich zum ersten Quartal 2022. Doch die Daten für diesen Winter sind nicht vollständig, wie die Verwaltung mitteilte.
Eigentlich misst die Verkehrsverwaltung Verkehrsstärken an bestimmten Straßen mit Messstellen, ähnlich wie bei den Fahrradmessstellen. Die sind aber ausgefallen. Der Grund? „Das Daten-Gap (…) ist auf die installierte Solartechnik mit sehr alten Batterien zurückzuführen, die versagt haben“, schreibt die Senatsverwaltung auf Anfrage. „Die Daten sind mutmaßlich verloren gegangen.“
Ob diesen Winter mehr oder weniger Kfz unterwegs waren: Die Stadt wird es womöglich nie erfahren.
Mehr Autos, mehr Radfahrer, mehr Verkehr im Oktober: Gibt das auch mehr Zusammenstöße auf Berliner Straßen? Die gute Nachricht: Es gibt weniger Unfälle als im Vor-Corona-Jahr 2019. Von Januar bis Oktober 2022 wurden 1852 Menschen schwer verletzt, 12.029 Menschen leicht. Das waren jeweils mehr als in den ersten beiden Jahren der Corona-Pandemie, aber weniger als im letzten Jahr vor Corona: 2019 hatte es von Januar bis Oktober 13.148 Leicht- und 1952 Schwerverletzte gegeben.
Auch die Zahl der Verkehrstoten geht zurück. 32 Menschen starben. Das sind acht weniger als 2021 und sogar 18 weniger als 2020. Zwar ist es die niedrigste Totenzahl seit langem. Aber von der Vision Zero ist Rot-Grün-Rot weit entfernt.
Liegt die stockende Verkehrswende etwa an Konflikten innerhalb der Koalition? Zumindest auf der Friedrichstraße scheint das der Fall zu sein. Die damalige Verkehrssenatorin Regine Günther hatte 2019 einen Abschnitt temporär und versuchsweise zur autofreien Straße gemacht, Nachfolgerin Jarasch übernahm das Grünen-Prestigeprojekt.
Doch im Oktober 2022 kippte das Berliner Verwaltungsgericht das Projekt, Autos fuhren wieder – und es zeigte sich, dass man sich in der Koalition keinesfalls einig ist. Die regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) wollte Autos weiterfahren lassen, Jarasch ließ Ende Januar die Friedrichstraße wieder sperren. Diesmal soll sie autofrei bleiben.
In wohl keinem anderen Bereich der Landespolitik zeigen sich innerkoalitionäre Meinungsverschiedenheiten deutlicher als beim Verkehr. Auch hinsichtlich der Verlängerung der Stadtautobahn A 100 gibt es ein Jahr nach der Wahl kaum Fortschritt. Grüne und Linke wollen den Ausbau stoppen, die SPD ist dafür. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Planung und Bau des 17. Bauabschnitts der A100 wird in der neuen Legislaturperiode durch die Landesregierung nicht weiter vorangetrieben.“ Dieses Versprechen hat nur der Bund gebrochen.
Es bleibt nicht bei Uneinigkeiten zu Auto- und Radverkehr. Auch beim Öffentlichen Nahverkehr ziehen die Regierende Bürgermeisterin und die Verkehrssenatorin nicht unbedingt an einem Strang. Giffey erklärte die U7-Verlängerung zur „Priorität“, vor wenigen Tagen stimmte Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke dem Projekt zu. Verkehrssenatorin Jarasch äußert sich eher zurückhaltend. Sie sprach sich Anfang 2022 für den Lückenschluss der U3 und den Ausbau der U7 zur Heerstraße-Nord als vorrangige U-Bahnprojekte aus. Auch hier wird sich also eher gestritten als vorangetrieben.
Dabei wird es im ÖPNV immer voller. Zumindest legen das Abonnent*innen-Daten der BVG nahe.
2022 war das Jahr von 9-Euro- und 29-Euro-Ticket, letzteres von der aktuellen Regierung geplant und umgesetzt. Ein kleiner Erfolg? Schwer zu sagen. Denn ob Menschen in diesem Zeitraum wirklich ihr Auto haben stehen lassen, ist ohne Verkehrsdaten nicht zu bewerten.
Bleibt noch der Flugverkehr. Der BER hat 2020 endlich eröffnet, die Zahl der Flugzeug-Passagiere ist nach der Pandemie wieder gestiegen.
Die Daten zeigen aber auch: Die Branche hat sich noch nicht komplett erholt. Ob der BER den Vor-Corona-Passagierzahlen standhält, auf die er ausgelegt sein soll, bleibt abzuwarten.
Immerhin: Weniger Passagierzahlen sind zwar schlecht für den Flughafen, aber gut fürs Klima. Auch für Letzteres ist die von Jarasch angeführte Senatsverwaltung schließlich zuständig. Hinsichtlich der Reduktion der Flugverkehr-Emissionen ließe sich also von einem Erfolg der Regierung sprechen – auch wenn sie nichts dazu beigetragen hat.