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Kinderbetreuung in Europa

So unterschiedlich ist das Angebot für Kleinkinder

Mit sechs Wochen, ab eins, ab drei: Welche Kinderbetreuung in Europas Hauptstädten angeboten wird, unterscheidet sich teils extrem. Auch bei den Kapazitäten und Kosten gibt es völlig verschiedene Ansätze. Eine Analyse.
Mit sechs Wochen, ab eins, ab drei: Welche Kinderbetreuung in Europas Hauptstädten angeboten wird, unterscheidet sich teils extrem. Auch bei den Kapazitäten und Kosten gibt es völlig verschiedene Ansätze. Eine Analyse.

Das europäische Ziel: Bis 2030 sollen 50 Prozent der Kinder unter drei Jahren und 96 Prozent der Kinder zwischen drei und der Schule in Kindergärten oder Kindertagesstätten betreut werden. So hat es der Europäische Rat in den Barcelona-Zielen festgelegt. Da Care-Arbeit noch immer häufiger von Frauen übernommen wird, soll das besonders auch fairere berufliche Chancen für Frauen bringen – aber auch soziale Unterschiede ausgleichen.

Die EU hat es sich schon länger zur Aufgabe gemacht, Betreuungsmöglichkeiten für Kinder vor dem schulpflichtigen Alter bereitzustellen. Bereits 2002 verständigten sich die Mitgliedsstaaten auf eine Betreuungsquote von 33 Prozent bei unter Dreijährigen und 90 Prozent aller Kinder zwischen drei Jahren und Schulalter. Im EU-weiten Durchschnitt ist dieses Ziel inzwischen erreicht. Zwischen den Mitgliedsstaaten gibt es jedoch gewaltige Unterschiede. Wir zeigen, wie weit die Länder und Hauptstädte sind.

Aktuell besucht in Dänemark, den Niederlanden, Luxemburg, Norwegen, Island, Frankreich, Belgien, Schweden und Portugal mehr als jedes zweite Kind unter 3 Jahren mindestens eine Stunde pro Woche eine formale Kinderbetreuung. In der Tschechischen Republik, der Slowakei und Rumänien liegt der Anteil bei unter zehn Prozent.

In allen Ländern wird sehr unterschiedlich gehandhabt, ab wann Kinder in Betreuungseinrichtungen können. Einen noch größeren Unterschied gibt es dabei, ob die öffentliche Hand die Plätze bezahlt und Kinder ein „Recht“ auf einen Kitaplatz haben. Und in manchen Ländern ist der Kindergartenbesuch verpflichtend ab einem bestimmten Alter.

In Deutschland haben Kinder seit 2013 ab dem ersten Lebensjahr den Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege, ab dem dritten Lebensjahr auf Förderung in einer Tageseinrichtung. Die genaue Umsetzung unterscheidet sich jedoch von Bundesland zu Bundesland. In Berlin ist der Kitabesuch für alle Kinder, abgesehen von einem Verpflegungsanteil von 23 Euro, kostenfrei.

Kathrin Bock-Famulla, Bildungsexpertin der Bertelsmann-Stiftung, lobt am deutschen System, dass keine Trennung zwischen Betreuung und dem Bildungsanspruch gemacht wird. „In Deutschland geht Betreuung immer auch mit Bildung einher”, sagt sie. „In anderen europäischen Ländern gibt es zum Teil immer noch die Haltung, dass es bei unter 3-Jährigen um Betreuung in dem Sinne geht, den Eltern Freiräume zu geben, damit sie ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen können.”

Ein Problem, nicht nur in Deutschland, sind die Kapazitäten der Kitas und Kindergärten. Oft gibt es nicht genug Plätze. Im Vergleich der ausgewählten Städte landet Berlin sogar an zweiter Stelle.

Eine Studie im Auftrag des neuen Bündnisses „Kitastimme“ von 2021 belegte, dass in Berlin bis zu 40 Prozent der über-zweijährigen Kinder aus migrantischen Familien keine Kita oder Tagespflege besuchen – auch weil die Platzsuche schwierig ist. Denn ein großer Faktor ist der Zugang zu Kitaplätzen. In Ländern, in denen private, auf Gewinn ausgerichtete Dienstleistungen für Kinder zwischen 3 und 6 Jahren nicht erlaubt sind, nehmen die Eltern diesen Zugang oft als besser war, wie eine neue Studie besagt.

Vor allem bei Kindern unter drei Jahren, bei denen die Wahrscheinlichkeit, eine Kita zu besuchen, ohnehin geringer ist, wird die Entscheidung der Eltern auch durch Faktoren wie kulturelle Normen bestimmt – oder durch die Verfügbarkeit von Großeltern oder anderen Familienmitgliedern in der Nähe.

In Deutschland sind Kinder statistisch immer länger am Tag an solchen Orten. „Das heißt die Kita ist für sie ein Lebensort neben der Familie und sie haben das Recht, dort Freunde zu finden und sich auch tatsächlich wohlzufühlen”, sagt Bock-Famulla.

Dieser europäische Kulturwandel hat ganz unterschiedliche Konsequenzen. Es setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass es bei den Kitas, Nurseries und Kindergärten vor allem darum geht, dass sich die Kinder dort wohlfühlen. Weniger als zuvor geht es nur darum, dass sie „abgestellt“ werden können. Gleichzeitig ermöglicht die Kinderbetreuung einen immer besseren Zugang der Eltern zum Arbeitsmarkt.

Das Verständnis solcher Orte als spielerische Lernplätze ermöglicht mehr sozialen Ausgleich, da Kinder verschiedener Gesellschaftsgruppen gleichermaßen gefördert werden. Wenn es dann nicht überteuerte Privatkindergärten sind, sondern Orte, die alle besuchen können, führt das auch zu mehr Austausch unter Kindern, deren Eltern ganz unterschiedliche sind.

Dieser Artikel wurde als Teil des European Cities Investigative Journalism Accelerator produziert, einem Netzwerk europäischer Medien, das sich den Herausforderungen europäischer Großstädte und Länder widmet. Das Projekt ist eine Fortführung der europäischen Recherche Cities for Rent und wird vom Stars4Media-Programm gefördert.

Das Team

Tamara Flemisch
Webentwicklung
Kirk Jackson
Datenvisualisierung & Entwicklung
David Meidinger
Webentwicklung
Sabrina Patsch
Text
Federica Testi
Datenrecherche
Lennart Tröbs
Visualisierung
Helena Wittlich
Text
Veröffentlicht am 6. März 2023.
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