Von Eliten gesteuert, von der Politik hinters Licht geführt: Die Hälfte der Ostdeutschen stimmt kurz vor den Landtagswahlen im Osten verschwörungstheoretischen Aussagen zu. In den alten Bundesländern sind es mit rund 30 Prozent deutlich weniger. Wähler von AfD und Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) schenken Verschwörungserzählungen mit Abstand am meisten Glauben.
Das geht aus Umfragedaten hervor, die der Tagesspiegel exklusiv ausgewertet hat. Die Analyse wirft ein Licht auf das Ausmaß der gesellschaftlichen Spaltung in Deutschland – und wie sie sich vor den anstehenden Wahlen verstärkt.
Die Langzeit-Umfragedaten stammen aus dem Forschungsprojekt SOSEC, an dem der Tagesspiegel neben dem Forschungszentrum Informatik (FZI) und dem KIT Karlsruhe beteiligt ist. Die Teilnehmer wurden etwa gefragt, ob sie glauben, dass aktuelle Krisen bewusst herbeigeführt werden, um Interessen von „Eliten“ zu verwirklichen. Oder ob Sie denken, dass die Politik ihre Lage absichtlich nicht verbessert.
Frank Brettschneider, Professor für Kommunikationswissenschaft an der Universität Hohenheim, ordnet den gestellten Fragen einen verschwörerischen Charakter zu. Er und seine Kollegen fragten im Rahmen einer Studie Einstellungen zu Rechtspopulismus und Verschwörungserzählungen ab – etwa „Die Regierung verschweigt der Bevölkerung die Wahrheit“, was in eine ähnliche Richtung gehe.
Brettschneiders Studie betrachtet das Zusammenspiel vieler Fragen, einige mit und einige ohne verschwörerische Inhalte. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass „gut ein Drittel der Bürger in den neuen Bundesländern Anhänger von Rechtspopulismus und Verschwörungserzählungen sind“, in den alten mit 17 Prozent deutlich weniger.
Während Brettschneiders Studie langfristige Entwicklungen untersucht und weniger häufig erhoben wird, legen die neuen FZI-Daten nahe: Dieser Trend hat sich in Ostdeutschland in den vergangenen Monaten noch einmal deutlich verstärkt. In Westdeutschland hingegen hielten es zuletzt weniger Menschen für möglich, dass „Eliten“ Krisen absichtlich herbeiführen.
„Ein Anstieg vor den Wahlen ist gut vorstellbar“, sagt Brettschneider am Telefon. Das liege an der Dynamik im Wahlkampf und der steigenden Mediennutzung in dieser Zeit. Im Fall von Menschen, die anfällig für Verschwörungstheorien sind, seien das vor allem soziale Medien. „Keine Gruppe nutzt Social Media für politische Information häufiger“, sagt Brettschneider.
Hinzu komme, dass Parteien davon profitieren, wenn Menschen an diese Inhalte glauben und das instrumentalisieren. Das gelte für AfD wie für das neue BSW. Eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung kam ebenfalls kürzlich zu dem Ergebnis, dass der AfD-Wahlkrampf in Sachsen verschwörungstheoretische Motive nutzt. Das schürt die Skepsis weiter.
Wie kommt es dazu? Brettschneider zufolge ist „die Wahl von AfD und BSW Ausdruck des sehr tiefen Misstrauens in die politischen Institutionen und die Eliten“.
Das habe im Osten auch historische Gründe. „Die Eliten wurden schon früher beschimpft, in DDR-Zeiten auch zurecht. Bei einigen sitzen diese Ressentiments noch immer so tief, dass sie jetzt übertragen werden.“ Außerdem hätten viele Bürger dort nach der Wende schlechte Erfahrungen gemacht.
Hinzu komme der psychologische Wunsch nach einer Erklärung für Krisen und Missstände. Sozialpsychologische Studien hätten ergeben, dass manche Menschen „lieber eine unsinnige Erklärung haben als gar keine Erklärung“, sagt Brettschneider. Und tatsächlich ist die ökonomische und demografische Situation in den neuen Bundesländern vielerorts schlechter, wenn auch nicht überall.
„Es ist nachvollziehbar, dass die Leute dort die Gegenwart und Zukunft negativer sehen als im Westen.“ Das erkläre aber nicht den nächsten Schritt, nämlich das Glauben an geheime Mächte und Eliten.
Was das für die Wahlen bedeuten könnte, zeigen die folgenden Karten. Während 50 Prozent der Befragten in Ostdeutschland im August immerhin eher daran glauben, dass Krisen herbeigeführt werden und Eliten davon profitieren („stimme voll und ganz zu“, „stimme zu“ und „stimme eher zu“), zeigt ein Blick auf die einzelnen Bundesländer: In Brandenburg und Sachsen, wo im September gewählt wird, sind besonders viele in dieser Einstellung gefestigt. Dort antworteten im Zeitraum von April bis August 32 beziehungsweise 30 Prozent mit „stimme voll und ganz zu“ oder „stimme zu“.
Die FZI-Langzeit-Umfrage wirft kurz vor den Wahlen ein Schlaglicht darauf, wie gravierend sich ein Teil der Bevölkerung – darunter überdurchschnittlich viele in Ostdeutschland – von Fakten und Co. über die Politik abgekapselt hat und glaubt, dass Entscheidungen im Geheimen getroffen werden.
Dass man Menschen, die nicht allein an einzelne verschwörerische Aussagen glauben, sondern ein gefestigtes verschwörungstheoretisches Weltbild haben, erreicht, denkt Brettschneider nicht. „Empirisch gesehen ist es sehr, sehr unwahrscheinlich, dass diese Gruppe sich einer Kommunikation zugänglich zeigt, die eine andere Position vertritt als sie selbst.“
Positiv sei allein: „Es ist immerhin nicht die Mehrheit.“ Dennoch haben seiner Studie zufolge inzwischen bundesweit fast 20 Prozent der Bevölkerung ein geschlossen rechtspopulistisches Weltbild. In Ostdeutschland sind es 29 Prozent. Zusammen mit Regierungsmisstrauen und der Anfälligkeit für Verschwörungserzählungen könnte das der Beginn einer Abwärtsspirale sein, die erst am Anfang steht.