In London ist seit einigen Jahren ein seltsames Phänomen zu beobachten. Wenn es dunkel wird, gehen in besonders begehrten Wohnlagen in Covent Garden oder Chelsea nur noch vereinzelte Lichter in den Fenstern an. Die Wohnungen gehören einer kosmopolitischen Elite, die in mehreren Städten Immobilien besitzt und sie nur bei ihren seltenen London-Aufenthalten braucht. Finanziell lohnt sich das trotzdem. Denn es sind gute Anlageobjekte – selbst unbewohnt.
Auch Paris leert sich abends. Weil es als lukrativer galt, Büros in der Innenstadt zu betreiben, sinkt dort die Zahl der Wohnungen. Weitere 114.000 wurden zu möblierten Apartments für Touristen umgebaut. Auch die stehen in der Pandemie leer.
Auf der anderen Seite des Spektrums liegt Berlin. In der europäischen Hauptstadt der Selbstverwirklichung, wo 83 Prozent zur Miete wohnen, galt der Erwerb einer eigenen Wohnung lange als unlukrativ, unnötig oder zumindest spießig. Mit steigendem Durchschnittseinkommen wird auch Berlin zur Eigentümerstadt, argumentieren viele. So, wie es in Dublin, Madrid oder Oslo schon seit Generationen normal ist. Doch eine europaweite Recherche zeigt: Das könnte ein Trugschluss sein.
Möglicherweise sind nicht Madrid und Oslo die Vorboten für Berlin, sondern umgekehrt. Berlin mit seinen Wohnungskonzernen, gescheitertem Deckel und dem wütenden Volksbegehren ist kein Relikt, sondern ein erster Vorgeschmack auf das, was kommt: ein europäischer Wohnungsmarkt, eine europäische Wohnungskrise – weitreichend verknüpft mit dem Finanzmarkt. Berlin ist das Labor dafür. Und das hat etwas mit den leeren Wohnungen in London und den leeren Büros in Paris zu tun.
In den letzten sieben Monaten hat ein Rechercheverbund die Wohnungsmärkte in 16 europäischen Städten verglichen. Wir wollten wissen, welches jeweils die größten privaten Wohnungsfirmen der Stadt sind, ob ähnliche Entwicklungen erkennbar werden und ob es Firmen gibt, die bereits europaweit agieren. Das Rechercheprojekt namens „Cities for Rent“ wird koordiniert unter dem Dach von „Stichting Arena for Journalism in Europe“ und gefördert vom Investigative Journalism Fund for Europe.
Das Ergebnis: Zwar zeigt sich, dass der Wohnungsmarkt in jeder teilnehmenden Stadt weit unterschiedlicher strukturiert ist als zunächst angenommen. Doch auch wenn es europaweite Megakonzerne für Wohnungen bisher noch nicht gibt: Es bilden sich gerade die ersten heraus. Ihr Vorgehen ist in den verschiedenen Städten ähnlich. Und die Politik ist in allen Städten ähnlich ratlos. Die Marktkräfte, die dahinterstecken, sind überall dieselben. Und sie werden durch die Pandemie beschleunigt.
Erstens wächst in allen 16 Städten die Bevölkerung in den letzten Jahren – teils sehr stark. Einzige Ausnahme: Athen. Zweitens: In allen Städten steigen die Mieten, selbst im schrumpfenden Athen. Laut Eurostat-Index lagen die Mieten europaweit 2020 um 14 Prozent höher als 2010, die Kaufpreise um 26 Prozent.
Im selben Zeitraum sind zwar auch die mittleren Einkommen gestiegen, in vielen Metropolen aber weniger als im Rest des Landes, während die Wohnungskosten hier stärker steigen. Laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung beträgt die Mietsteigerungen in Berlin 64 Prozent von 2010 auf 2019 bei Bestands- und 51 Prozent bei Neubauten. In Neukölln wurden laut Immoscout24 von 2007 und 2018 sogar 146 Prozent Steigerung bei den Angebotsmieten verzeichnet.
Einen europaweiten Städtevergleich bei den Mieten gibt es kaum. Denn es gibt kein europäisches Vorgehen. Das höchste statistische Amt Eurostat kann nichts weiter tun, als die Städte um freiwillige Meldung zu bitten. Das tun wenige. So sind die einzigen Vergleichszahlen meist Investment-Berichte, das Wissen über den Markt ist exklusiv. Selbst EU-Parlamentarier berichten, dass auch keine genauen Informationen haben, welche Konzerne wo in Europa wie aktiv auf dem Wohnungsmarkt sind.
Dazu kommt drittens, dass der Anteil der Haushalte, die zur Miete wohnen in den 16 Städten weit über dem nationalen Durchschnitt liegt. Einzige Ausnahme ist Dublin, wo gerade einmal 23,9 Prozent der Bevölkerung zur Miete wohnen. Doch auch dort wird es immer schwerer zu kaufen. Nur noch 15 Prozent der Bevölkerung in Dublin geben in einer Eurostat-Umfrage an, es sei gut möglich, eine Wohnung zu finden. Damit liegen die Eigentumsstadt Dublin und die Mietstadt Berlin fast gleichauf. Die Tatsache, dass viele Menschen sich immer größere Wohnungen wünschen, verschärft das Problem.
Viertens nimmt in den meisten Ländern der Anteil der Bevölkerung, der zur Miete wohnt, zu, der individuelle Wohnungsbesitz ab. Hinzu kommt fünftens der Tourismus und damit verbunden die Umwandlung von Wohnungen in Airbnb-Angebote. Und sechstens schaffen es die Städte nicht, so viele neue Wohnungen zu bauen, dass es die Preisentwicklung bremst. Egal, ob sie starke oder schwache Mieterschutzgesetze haben.
Zu diesen sechs Faktoren kommt nun seit zehn Jahren der schwerwiegendste, wie die Recherche zeigt: Geld. Sehr, sehr viel Geld. Nicht das kleine Geld der Bausparverträge, sondern das milliardenschwere Kapital der Fonds, denen Wohnungen früher zu kleinteilig waren. Real Capital Analytics, eine der wichtigsten globalen Analysefirmen für Immobilientransaktionen, sammelt weltweit Informationen zu großen Wohnungskäufen. Das Unternehmen hat für diese Recherche alle großen Immobiliendeals in den 16 Städten ausgewertet.
2007 lag die Summe der großen Käufe (mindestens zehn Wohneinheiten pro Kauf) bei 17,3 Milliarden Euro. 2009 fielen die Investitionen während der Finanzkrise auf knapp acht Milliarden. Seither explodieren sie. 2019 wurden 66,9 Milliarden Euro in Mietwohnungen investiert. Selbst im Corona-Jahr 2020 gingen die Investitionen nur leicht zurück. Platz eins bei den Investitionen: Berlin.
Insgesamt 42 Milliarden Euro wurden von 2007 bis 2020 für große Wohnungsdeals in Berlin und Umland ausgegeben, mehr als in Paris und London zusammen. Im Gegensatz zu London kam der Großteil der Investitionen in Berlin noch aus dem Inland. Die Analyse der Herkunftsländer grenzüberschreitender Investitionen zeigt jedoch: Die Investitionen globalisieren sich langsam. Platz eins belegen die USA. Aber auch Deutschland, Frankreich, England und Schweden investieren viel grenzüberschreitend. Katar und Russland sind auch mit dabei. Und je mehr mitbieten, desto höher steigen die Preise.
„Ich glaube, inzwischen ist es absolut eindeutig, dass die Wohnungskrise alle in Europa betrifft, nicht nur eine kleine Gruppe von Menschen“, sagt Kim van Sparrentak, Mitglied des EU-Parlaments für die niederländischen Grünen. Sie hat an einem Bericht zur Wohnungssituation mitgearbeitet. Die Krise sei das Ergebnis einer europäischen Politik, die immer nur gefragt habe, wie sich der Markt stärken lasse, sagt sie. Tom Leahy, Senior Analyst für Immobilientransaktionen bei Real Capital Analytics seziert die Situation weit nüchterner: Dem wirklich großen Anlagekapital gehen die wichtigsten Anlageoptionen aus.
Er sagt, der Immobilienmarkt nach der globalen Finanzkrise sei ein völlig anderer als der davor. Wenn man wirklich hohe Mengen von Geld anlegen müsse, beispielsweise als milliardenschwerer Pensionsfonds, kann man nicht das ganze Geld in Aktien oder Währungen investieren. Zu hoch die Schwankungen, zu groß das Risiko. Ein wichtiger Teil des Geldes von Pensionsfonds, Vermögensverwaltungen und reichen Family Offices wurde daher klassischerweise in risikoarme Staatsanleihen investiert. Da die Europäische Zentralbank die Finanzkrise allerdings letztlich damit beendete, den Leitzins auf null zu setzen, gibt es für viele Staatsanleihen nur noch minimale Zinsen, oft sogar Negativzinsen. So werden Investitionen in Immobilien noch attraktiver.
Wohnungen waren für diese Anlageformen lange nicht so beliebt, sagt der Analyst: „Wenn du vorhast, in den nächsten zwei Jahren 600 Millionen Euro für europäische Wohnungen auszugeben, musst du sehr viele kaufen.“ Gewerbeimmobilien, Büros oder Shoppingcenter waren deshalb das Investitionsobjekt der Wahl. Doch der Zuwachs beim Onlineshopping führt zu leer stehenden Läden, Homeoffice stellt die Bürowüsten infrage. Eine Wohnung hingegen brauchen alle. Und trotz Krise würden 90 Prozent der Mieten weiterhin bezahlt, sagt der Analyst, gestützt von staatlichen Hilfsprogrammen. Damit leisten Wohnungen als Investition: regelmäßige, sichere Rendite.
Die Popularität der Städte und das häufigere Umziehen führt auch dazu, dass Leute durchschnittlich längere Zeit in ihrem Leben mieten, erzählt Tom Leahy, der seine erste eigene Wohnung einige Tage nach dem Interview kaufen wollte. Er hat sich kürzlich die Käufe der 50 größten Investment Manager weltweit angeschaut, Blackstone, Allianz und Generali zum Beispiel. Letztes Jahr gingen demnach 30 Prozent ihrer Immobilieninvestitionen in den Wohnungsmarkt, 2007 waren es nur um die zehn Prozent. Aus Leahys Sicht ist Deutschland deswegen ein reifer Markt. Dem andere folgen werden.
Der Geldstrom in den Wohnungsmarkt wird zu einer Art selbsterfüllenden Prophezeiung. Weil die Wohnungspreise steigen, können sich weniger Leute eine leisten. Die, die es noch können, werden aus Angst vor hohen Mieten trotzdem versuchen, eine zu kaufen, was den Preis noch weiter steigert. Also wohnen langfristig wahrscheinlich eher mehr Leute zur Miete. Und das macht Wohnungen aus Investmentsicht noch rentabler.
Das ist die Sicht von oben. Am Boden, bei den Leuten, wo die Wohnungen nicht Investment heißen, sondern Zuhause, führt die Kapitalverschiebung zu tiefen Rissen im Stadtleben. Denn bevor Wohnungen erst zu Paketen von Hunderten, dann Tausenden geschnürt, renoviert, vermietet und weitergehandelt werden können, sind oft diejenigen im Weg, die darin wohnen.
„Cities for Rent“ ist ein europäisches Rechercheprojekt. Alle arbeiten unabhängig voneinander, aber Rechercheergebnisse werden geteilt. Es besteht aus 16 Teams in 16 europäischen Hauptstädten und Metropolen in 16 Ländern (genaue Liste der Medien und Journalist:innen unten). Sieben Monate lang untersuchte der Rechercheverbund die lokalen Wohnungsmärkte, recherchierte Daten zu großen Wohnungsunternehmen, Preisentwicklungen, Investitionen und demografische Entwicklungen in den einzelnen Städten und verglich gemeinsame Strukturen.
Das Tagesspiegel Innovation Lab ist der Berliner Teil dieser Recherche und veröffentlicht die Rechercheergebnisse in Deutschland. Neben lokalen Recherchen in den Berliner Wohnungsmarkt hat das Team die Visualisierungen und ein gemeinsames Gestaltungskonzept für das Verbundprojekt entwickelt. Die interaktiven Vergleichsgrafiken können dabei von allen genutzt werden, übersetzt und eingeordnet in der jeweiligen Landessprache. Eine Übersicht aller Veröffentlichungen finden Sie auf der Projektseite bei Arena Journalism for Europe.
Wien: ORF, Brüssel: Apache, Prag: Deník Referendum, Kopenhagen: Information, Paris: WeReport, Mediapart, Athen: AthensLive, Reporters United, Dublin: Dublin Inquirer, Milan: IrpiMedia, Amsterdam: Follow the Money, Oslo: E24, Lissabon: Expresso, Bratislava: Aktuality, Madrid: El Diario, Zürich: Reflekt, Republik,
In den nächsten Tagen und Wochen werden wir weitere Egebnisse veröffentlichen. Einige Rechercheergebnisse aus anderen Städten werden wir zusammenfassen und auf Deutsch übersetzen.
Bereits 2018 startete der Tagesspiegel und das gemeinnützige Recherchezentrum Correctiv das Projekt Wem gehört Berlin Gemeinsam mit allen Berlinerinnen und Berlinern wollte das Team herausfinden, wem die Häuser dieser Stadt gehören, um mehr Transparenz auf dem Berliner Immobilienmarkt zu schaffen. So entstand etwa eine Geschichte über eine britische Milliardärsfamilie, die zu den geheimem Großeigentümern dieser Stadt gehört. Außerdem haben wir uns auf die Suche begeben, wer letztendlich vom Berliner Mietmarkt profitiert. In dem europäischen Projekt konnten wir auf die Erkenntnisse aus dieser Recherche aufbauen. Das Projekt Wem gehört...? in Deutschland wurde vielfach fortgesetzt. Mittlerweile gibt es das Projekt in zahlreichen deutschen Städten.
Es gab weitere relevante Recherchen in den Berliner Wohnungsmarkt, auf die wir aufbauen konnten. So hat das Projekt Wem gehört die Stadt? unter der Leitung von Steuerexperte Christoph Trautvetter hat seither mit verschiedenen Studien neue Erkenntnisse zum Berliner Mietmarkt veröffentlicht. Der Experte hat das Projekt mit wertvollen Erkenntnis unterstützt.
Das Berliner Rechercheprojekt Mietenwatch veröffentlichte ebenfalls Analysen, auf die wir aufbauen konnten.
Das Immobilienanalyseunternehmen Real Capital Analytics erstellte für die europäische Recherche eine Auswertung von Investitionen in den beteiligten Städten, die es uns kostenfrei zur Verfügung stellte.
Wir bedanken uns außerdem bei Eurostat, dem Statistischen Amt der Europäischen Union, die zahlreiche relevante Datensätze zum europäischen Wohnungsmarkt veröffentlicht haben und auf zahlreiche Rückfragen zu Datenquellen antworteten.
Es folgen noch weitere Veröffentlichungen – im Tagesspiegel – und in den europäischen Partnermedien des Projekts. Außerdem werden alle veröffentlichbaren Datensätze aus dieser Recherche mittelfristig auf einer Zentralen Seite von Arena Journalism veröffentlicht, um künftige Recherchen zum Wohnungsmarkt in Europa zu vereinfachen.