Er hatte sich das fantastisch vorgestellt: eine Schule an der U-Bahn-Linie 9, die Berlin von Nord nach Süd verbindet. Er dachte an Kinder aus allen sozialen Schichten, vom eher armen Wedding bis ins vergleichsweise reiche Steglitz-Zehlendorf.
Es kam anders.
Jens Großpietsch, einer der zwei Gründer der privaten Freudberg-Gemeinschaftsschule an der Bundesallee in Wilmersdorf, seufzt ins Telefon. Er sagt: „Es ist ein langer Weg.“
Etwa jedes zehnte Berliner Kind besucht mittlerweile eine private Schule in freier Trägerschaft. Tendenz steigend. Das entspricht dem bundesweiten Trend. Laut eines Berichts des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung DIW aus dem Winter 2022, wachse die Zahl der Privatschüler:innen in Deutschland stetig – insbesondere in Ostdeutschland. „Besonders häufig“, heißt es, „kommen sie aus Haushalten mit hohem Einkommen und hohem Bildungsniveau.“
Privatschulen können für mehr Wettbewerb im Bildungswesen sorgen. Dass Konkurrenz das Geschäft belebt, gilt auch hier.
Doch die Privatschulen tragen auch zu sozialer Spaltung der Schülerschaft bei – und damit der Stadtgesellschaft. Das zeigt eine neue exklusive Datenanalyse des Sozialwissenschaftlers Robert Vief an der HU Berlin. Er hat analysiert, wie sich die Zusammensetzung von Grundschulen und die Zusammensetzung der umliegenden Kieze verändern. Das Ergebnis: Die Berliner Kieze werden zunehmend diverser, die Grundschulen immer segregierter. Es gibt immer weniger Durchmischung ärmerer und wohlhabender Kinder. Privatschulen treiben diese Entwicklung besonders an.
Kritiker sagen, das Land Berlin verstoße damit gegen das Grundgesetz. Und die Studie von Vief zeigt: Selbst in Kiezen, in denen neben einkommensschwachen und sogenannten bildungsfernen Familien auch ökonomisch Bessergestellte leben, spiegelt sich diese Mischung nicht an den Schulen.
Geld spielt dabei eine Rolle, denn die meisten privaten Schulen verlangen ein einkommensabhängiges Schulgeld. Aber das Geld ist nicht das einzige Hindernis: Erfahrungen aus Ländern ohne Schulgeld an freien Schulen zeigen, dass auch hier die bildungsfernen und armen Familien unterrepräsentiert sind. Demnach kann auch mangelndes Bildungsinteresse oder die fehlende Bereitschaft, längere Schulwege in Kauf zu nehmen, eine Rolle dabei spielen, wenn Familien die naheliegende Schule im Kiez wählen – unabhängig von ihrer Qualität.
Insgesamt, das stellt auch das DIW fest, ist die Privatschullandschaft in Deutschland sehr heterogen. Es gibt konfessionelle und reformpädagogische, beispielsweise Beispiel Waldorf- und Montessori-Schulen, manche haben eine kreative Ausrichtung, andere fokussieren auf Sprache und internationale Abschlüsse. Natürlich gibt es auch die elitären, bei denen bereits die reguläre Aufnahmegebühr so hoch wie ein durchschnittliches Berliner Nettogehalt ist.
Mit den Schulen über ihre Auswahlkriterien zu sprechen, gestaltet sich schwierig. Als private Einrichtungen sind sie nicht auskunftspflichtig, obschon sie zu großen Teilen staatlich finanziert werden. Das Land Berlin übernimmt 93 Prozent der Personal- und somit rund zwei Drittel der Gesamtkosten. Viele melden sich auf wiederholte Tagesspiegel-Anfrage nicht zurück oder lassen mitteilen: „kein Interesse“.
Jens Großpietschs Freudberg-Gemeinschaftsschule ist für all dies einerseits kein gutes Beispiel, weil die Schule aktiv versucht, gegen den Trend zu arbeiten. Andererseits ist sie perfekt, um zu illustrieren, wie festgefahren das System ist.
Etwa 275 Schüler:innen besuchen die Schule derzeit, zwei Drittel sind Grundschüler, es gibt drei Klassen der Jahrgänge 7 bis 9 und eine zehnte Klasse. Zwar kommen die Kinder und Jugendlichen aus allen möglichen Kiezen, manche sind morgens eine Stunde unterwegs. Doch liegt der Anteil derer, die ein Stipendium erhalten, beharrlich bei etwa zehn Prozent.
25 Prozent wünschte sich die Schulleiterin Ann-Katrin Schwindt, sie ist zuversichtlich, dass sich dafür Sponsoren auftreiben ließen. Aber wo sind die Bewerber:innen?
Ein Flyer in einfacher Sprache soll nun helfen, Familien zu erreichen, die nicht bildungsnah sind, in denen die Familiensprache gegebenenfalls nicht Deutsch ist. Jens Großpietsch lacht, wenn er an das Schul-Gründungsjahr 2016 denkt: „Ich dachte die rennen uns die Bude ein.“ Mitnichten.
Zuvor war er Schulleiter an einer Brennpunktschule in Moabit. Mit Energie und Kreativität hatte er diese Schule über knapp 20 Jahre in eine begehrte Einrichtung verwandelt. „Die richtige soziale Mischung wäre die Lösung für viele gesellschaftliche Probleme“, sagt Großpietsch.
Doch sind selbst staatliche Schulen mittlerweile zu Motoren der Segregation in Berlin geworden. Hat eine Schule viele Kinder aus armen Familien oder mit Migrationshintergrund, gehen sowohl bildungsnahe Eltern als auch Lehrer:innen auf Abstand.
Chancengleichheit gibt es im deutschen Bildungswesen nicht. Und noch immer entscheiden Einkommen und Bildungsstand der Eltern über den schulischen Weg der Kinder.
In Berlin sind etwa 30 Prozent aller Kinder und Jugendlichen „anspruchsberechtigt nach dem Bildungs- und Teilhabepaket“. Das bedeutet, dass ihre Familien Sozialleistungen beziehen. Nur acht Prozent solcher Kinder besuchen Schulen in freier Trägerschaft. Zwischen den zwölf Berliner Bezirken gibt es hinsichtlich der Schülerschaft gravierende Unterschiede: In Mitte, Steglitz-Zehlendorf und Charlottenburg-Wilmersdorf besucht jedes fünfte bis sechste Kind eine private Schule.
Dabei sind zum Beispiel im Bezirk Mitte mehr als die Hälfte der Kinder auf öffentlichen Schulen von Armut betroffen. Auf den dortigen Privatschulen sind es hingegen weniger als 10 Prozent.
1000 Euro im Monat koste die Schule ihres jugendlichen Sohnes in Friedrichshain-Kreuzberg, erzählt eine Mutter. Der Vater des Kindes übernimmt die Zahlung, die Eltern leben getrennt. Als sie damals mit ihrem Sohn aus dem Ausland zurück nach Berlin gezogen sei, sollte der Junge so gefördert werden, dass er seine Dreisprachigkeit erhalten könnte. 150 Euro zahlte die Alleinerziehende damals für die private Grundschule.
20 Kinder seien in der Grundschulklasse ihres Sohnes gewesen, dazu ständig zwei Lehrkräfte. Luxus im Vergleich zur staatlichen Schule, die ihre kleine Tochter, seine Halbschwester, nun gemeinsam mit ihren Freundinnen besucht. Elf erste Klassen wurden zur Einschulung begrüßt. Sie werde sich genau ansehen, wie es ihrer Tochter in den kommenden Monaten gehe. Einen Wechsel auf eine private Schule schließt sie nicht aus.
Dass die öffentliche Schule in Konkurrenz zur privaten verliere, darin sieht sie vor allem ein politisches Problem. Mangelnde Steuerung? Vielleicht. Zu wenig Geld für gute Bildung, kleine Klassen, mehr Lehrer:innen? Sicher. Allein, die Kinder sollten es nicht ausbaden.
Sie sagt: „Meine Kinder sind kein soziales Projekt.“
Schule ist staatlich und Bildung hat kostenlos zu sein – von dieser Idee rücken immer mehr Eltern angesichts der Probleme in den staatlichen Schulen oder auch angesichts besonderer Ansprüche an schulische Angebote ab. Eine 45-jährige Mutter aus Prenzlauer Berg berichtet, warum sie und ihr Mann, ein Amerikaner, sich an der für ihren Sohn auserkorenen bilingualen privaten Schule in Mitte gleich beim ersten Besuch wohl fühlten: „Es gibt dort eine sehr internationale Elternschaft, die Familien kommen wirklich von überall aus der Welt.“ Die Einzugsschule gegenüber ihrer Wohnung hingegen sei toll, „aber schon sehr deutsch“.
Noch ist nicht klar, ob ihr Sohn, der erst im kommenden Jahr eingeschult werden wird, einen Platz an der gewünschten Schule kriegt. Er stehe auf einer Warteliste, deren Länge den Eltern unbekannt sei. Sollte ihm ein Platz angeboten werden, muss er zunächst für einen Probetag vorbeikommen, an dem geschaut wird: Passt das Kind zu uns – und passen wir zum Kind?
„Ich habe ehrlich gesagt nach bilingualen Schulen gesucht und nicht nach Privatschulen“, erzählt die Mutter des Kindes am Telefon. Dass die meisten deutsch-englischen Schulen in freier Trägerschaft sind, sei ihr erst bei näherem Hinsehen aufgefallen.
Schon bei der Interessensbekundung mussten sie und ihr Mann das ungefähre Haushaltseinkommen angeben. Laut Gebührenordnung der Schule würden sie zwischen 500 und 700 Euro monatlich zahlen müssen. Die Schwiegereltern haben finanzielle Unterstützung angeboten.
Dass Privatschulen grundsätzlich jeder Person offenstehen müssen, ist im Grundgesetz festgeschrieben, Artikel 7 Absatz 4:
„Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen. Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen und eine Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird.“ Brechen Berliner Privatschulen das Gesetz?
Ja, zu dem Schluss kamen drei Autoren einer 2016/17 erschienenen Studie vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Das Ergebnis ihrer Recherchen formuliert der Mitautor und Bildungssoziologe Marcel Helbig wie folgt: „In Berlin findet ein systematischer Verstoß gegen das verfassungsrechtlich verankerte Sonderungsverbot statt.“
Nein, sagt Andreas Wegener, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft freier Schulen. Es sei laut Grundgesetz schließlich kein Sonderungsverbot, sondern ein Sonderungsförderungsverbot. Das Land Berlin habe bislang Regelungen vergessen, den freien Schulen einen Ausgleich für die Kinder zu bezahlen, deren Eltern arm seien, oder die der inklusiven Förderung bedürften.
Der Berliner Senat erlaubt, ein Schulgeld von 100 Euro im Monat zu erheben, wenn die Familie ein jährliches Bruttoeinkommen von bis zu 29.420 Euro hat. Die Wissenschaftler stellten bei ihrer Analyse damals fest, dass sich von 160 freien Berliner Schulen nur 50 an die Vorgabe hielten. Etwa 20 Prozent der 110 verbleibenden Schulen verstießen damals massiv dagegen.
Eine gesetzliche Konkretisierung des Sonderungsverbotes gibt es nicht. Michael Wrase, Professor für öffentliches Recht und Co-Autor der Studie, sagt: „Was es gibt, sind unverbindliche Vorgaben, aber keine gesetzlichen Regelungen wie eine Schulgeldtabelle. Davor scheut die Politik zurück.“ Das mache es schwer, bei einem mutmaßlichen Verstoß gegen das Sonderungsverbot einzuschreiten. Auch habe noch keine Person gegen das Schulgeld geklagt – beispielsweise, wenn durch Elternzeit oder Arbeitslosigkeit ein Teil des Einkommens wegfällt.
Die Schulen wiederum verweisen auf gestaffelte Elternbeiträge, Geschwister-Rabatte, Stipendien, Gespräche mit Härtefällen und nicht zuletzt: die Kürzung der finanziellen Zuschüsse durch den Senat. Würde der die Schulplätze für arme Kinder finanzieren, man hieße sie gern willkommen, heißt es vonseiten der Schulen.
Über die Jahre hat sich auch das Bundesverfassungsgericht immer wieder mit der Frage beschäftigt, wie hoch ein monatliches Schulgeld sein darf. Mal lag die Antwort bei 120, mal bei 190 Euro.
Die Waldorfschule im Märkischen Viertel ist die einzige der angefragten Schulen, die schriftlich mitteilt, der durchschnittliche Schulgeldbeitrag liege derzeit bei etwa 150 Euro pro Kind. „Der Kern unseres Schulgeldkonzeptes liegt allerdings in der ,verantwortungsvollen Selbsteinschätzung‘.“ Dies führe dazu, dass etwa sieben Prozent der Familien weniger als den empfohlenen Mindestbeitrag von 80 Euro monatlich zahlen und weitere zehn Prozent weniger als 90 Euro.
Da dies auf Selbsteinschätzung beruhe, würden keine Einkommensnachweise verlangt und daher auch keine Statistik über soziale Herkunft geführt. „Die Debatte um eine Kontrolle der privaten Schulen reduziert sich oberflächlich gerne auf das Geld“, sagt Wegener.
An einigen Schulen scheint es durchaus einen Unterschied zu machen, wenn die Eltern zu den finanziellen Stützen der Einrichtung gehören. So erzählt eine Lehrerin einer Privatschule in Mitte, dass sie sehr gern dort unterrichte und im Vergleich zur öffentlichen Schule mit 3900 Euro Brutto zwar ein geringeres Gehalt aber viel mehr Freiheiten habe.
Doch wünschte sie sich teilweise mehr Unterstützung der Schulleitung, wenn es um Regeln im Klassenzimmer gehe. Notorische Zuspätkommer würde sie gern sanktionieren. „Da heißt es dann: aber die Familie bezahlt viel Geld…“
Viele der Eltern und Kinder seien gewohnt, dass sie für Geld alles bekommen. Andere wiederum wüssten die privilegierte Ausbildung zu schätzen. Die Lehrerin erzählt von Schülern, die zwischenzeitlich auf eine öffentliche Schule wechselten – und schnell zurückkehrten.
Man kann fragen, warum die privaten Schulen für viele Familien attraktiv sind. Man kann die Frage aber auch umdrehen: Warum sind die öffentlichen Schulen es nicht? In Gesprächen mit Eltern fällt oft das Wort „Verlässlichkeit“. Unterrichtsausfall, heißt es, sei an privaten Schulen eher selten, Betreuung garantiert.
Im Hort-Raum der privaten Freudberg-Gemeinschaftsschule grinsen Nura und Sarah. Für die zwei 15-Jährigen ist „eigentlich gar kein Unterrichtsausfall“ nicht unbedingt ein Pluspunkt. Seit der siebten Klasse besuchen die beiden die Schule, hier sind sie, Nura aus Schöneberg, Sarah aus Friedrichshagen, zu guten Freundinnen geworden. Beide landeten aus Mangel an Alternativen auf der Freudberg-Schule, an ihren gewünschten weiterführenden öffentlichen Schulen bekamen sie keine Plätze.
„Meine Freundinnen haben schon gesagt: Privatschule, ist das nicht voll teuer?“, sagt Nura. Dann zuckt sie mit den Schultern: „Ich weiß gar nicht, was meine Eltern hier bezahlen.“ Ihr Vater ist Rentner, ihre Mutter arbeitet in einer Bäckerei. Die Schule war ihnen empfohlen worden.
„Meine Oma hat die Schule gefunden“, erzählt Sarah. „Meine Mutter hat sie sich dann angeschaut und gedacht, dass es hier vielleicht besser als an anderen Schulen ist.“
Sie erzählen von regelmäßigen Kunst- und Musik-Projektwochen und pro Jahr einem Praktikum. „In Forschendes Lernen erarbeiten wir zusammen eine Präsentation“, sagen sie. Es geht um Mikroplastik in Kosmetik.
Privilegiert? Nee, sagen die zwei, so fühlten sie sich nicht. „Aber ich bin nach vier Jahren ein bisschen traurig zu gehen“, sagt Nura. Eine Oberstufe hat die Schule nicht.
Der Mitgründer und weiterhin pädagogische Berater der Schule, Jens Großpietsch, knapp 40 Jahre Lehrerfahrung aus beiden Systemen, dem öffentlichen und dem privaten, wünschte sich eine 100-Prozent-Finanzierung aller Schulen, Kontrollen eingeschlossen: Je durchmischter die Schule ist, desto mehr Geld sollte es geben.
Davor aber scheut die Politik bisher zurück – aus Kostengründen. Die SPD, die die Bildungsverwaltung 27 Jahre lang führte, wollte zwar nach eigenem Bekunden die soziale Segregation dämpfen, war aber nicht bereit, das Schulgeld für die ärmeren Schülerinnen und Schüler zu zahlen, damit diese auch freie Schulen besuchen können. Jetzt steht das Thema laut der CDU/SPD-Koalitionsvereinbarung wieder auf der Agenda, wurde aber wegen der aktuellen Finanznot abermals verschoben.