In 67 Tagen endet die Übergangszeit des Ölembargos, das die Europäische Union im August beschlossen hat. Ab diesem Tag darf kein russisches Öl mehr in die EU importiert werden. Was kaum jemand weiß: Ab diesem Tag dürfen Versicherungsunternehmen aus der EU keine Tanker mehr versichern, die russisches Öl transportieren – egal, in welches Land.
Ein Tanker, der russisches Öl nach Indien bringt, ist also ab Dezember nicht mehr über EU-Firmen versicherbar. Und ohne Versicherung ist ein Öltransport nicht denkbar. Sie fängt die Risiken auf, die, etwa bei einer Havarie, entstehen können. Versicherungen könnten der Schlüssel zur Blockade von großen weiteren Teilen von Russlands Einkünften sein.
Denn obwohl der EU-Import von russischen Rohstoffen seit Beginn des Ukrainekrieges gesunken ist, transportieren weiterhin Hunderte europäische Schiffe russisches Öl über die Ozeane, wie eine Recherche von Investigate Europe und Reporters United zeigt. Ein großer Teil der Unternehmen sind griechische Reedereien. Aber auch deutsche Schiffsgesellschaften sind vorne mit dabei – und halten so Putins Krieg am Laufen.
Schaut man sich die Datensätze genauer an, zeigt sich aber auch: Während es Hunderte Reedereien gibt, sind es nur ein gutes Dutzend der immer gleichen Organisationen, die ihre Rohstofftransporte versichern. Sie nennen sich „P&I-Clubs“. P&I steht für „Protection and Indemnity“, auf Deutsch: „Schutz und Entschädigung“.
Die Datenanalyse von Investigate Europe, Reporters United und des Tagesspiegel Innovation Lab zeigt, dass fast alle Schiffsversicherer Mitglied in der britischen „International Group of P&I“ (IGP&I) sind. In ihr haben sich die 13 größten P&I-Clubs zusammengeschlossen. Laut eigenen Angaben versichern sie 90 Prozent des Seetransports. In den Daten des Centre for Research on Energy and Clean Air (CREA), in denen zu jeder Fahrt auch der Versicherer angegeben ist, sind es 99 Prozent aller Fahrten.
Allein im ersten Monat der russischen Invasion versicherten IGP&I-Mitglieder den Transport von 40 Millionen Barrel Öl aus Russland, schätzt die Umweltschutzorganisation Global Witness. „Ohne diese Versicherer wäre es für Russland fast unmöglich gewesen, seine Exporte fossiler Brennstoffe aufrechtzuerhalten”, sagte die Global-Witness-Aktivistin Lela Stanley im Gespräch mit Investigate Europe. „Die Versicherer unterstützen so ein Regime, das unschuldige Zivilisten ermordet, während es die Klimakrise vorantreibt.“
P&I-Clubs haben eine lange Tradition. Im 18. Jahrhundert gründeten die Schiffseigner in Großbritannien die Clubs, um ihre Schiffe besser zu versichern als bei den damaligen Anbietern. Als Clubmitglied zahlte jeder Reeder für einen Anteil des Gesamtrisikos. Das war so für alle Schiffe aller Mitglieder gedeckt. So ist das noch heute.
Die Mehrheit der großen P&I-Clubs sitzt immer noch in Großbritannien, nur zwei der 13 IGP&I-Mitglieder sitzen in der EU: The Shipowners‘ Mutual P&I Association in Luxembourg und The Swedish Club in Schweden. Greifen also die EU-Sanktionen für die Mehrheit der großen Versicherer gar nicht? Das wäre umso drastischer, denn Großbritannien ist einer der stärksten Unterstützer der Ukraine.
Ein Rundschreiben der Versicherer an die Mitglieder von vergangener Woche verrät mehr. „Die meisten der IG-Clubs unterliegen der Rechtsprechung der EU. Alle IG-Clubs, einschließlich derjenigen, die ihren Sitz außerhalb des EU-Gebiets haben, stützen sich auf ein Rückversicherungsprogramm, das in hohem Maße von der Beteiligung von Rückversicherern mit Sitz in der EU abhängt.“ Die EU-Sanktionen schließen Rückversicherer explizit mit ein.
Dem Rundschreiben zufolge müssten die einzelnen Clubs selbst für entsprechende Zahlungen aufkommen, sollte ein Rückversicherer aufgrund der Sanktionsregeln nicht zahlen. Was das genau bedeutet? Auf Anfragen heißt es bei „Assuranceforeningen Skuld” aus Norwegen, Anfragen zu Sanktionen würden generell von IGP&I beantwortet.
Auch beim „Standard Club“ aus London schreibt man zurück: „Der Standard Club ist nicht in der Lage, über die von uns veröffentlichten ausführlichen Rundschreiben hinaus weitere Kommentare zu den Sanktionen und anderen mit dem Ukraine-Krieg zusammenhängenden Angelegenheiten abzugeben.“ Beim „Japan P&I Club“ kann man aufgrund von Verschwiegenheitsklauseln nichts über die konkreten Auswirkungen der Sanktionen sagen.
Die Anfragen an die anderen zehn Clubs bleiben gar völlig unbeantwortet, über involvierte Rückversicherer gibt es keine Auskunft. Auch die Rückfragen bei den fünf größten Rückversicherern ergeben nicht viel. Beim Blick in die Geschäftsberichte des „American Club“ wird der deutsche Rückversicherer „Munich Re“ genannt. Auf Anfrage in München heißt es: „Wir halten an der generellen Linie fest, mit Dritten keine Information über mögliche oder bestehende Geschäftsbeziehungen zu teilen.“ In Transportversicherungen beachte man die Sanktionen und setze sie um, teilte eine Unternehmenssprecherin mit.
So richtig will also keiner sagen, welchen Effekt die Sanktionen auf ihr Geschäft haben. Das könnte dafürsprechen, dass sie tatsächlich einen Effekt haben. Der Global Claims Director der „The North of England P&I Association Ltd.“ sagte im August dem Nachrichtensender Bloomberg, dass die Erweiterung der Sanktionen auf einen Versicherungsbann für alle Schiffe beträchtliche Schwierigkeiten geschaffen habe.
Fakt ist: Ohne gleiche Beschränkungen für Versicherer aus Großbritannien könnte der Effekt eher klein bleiben. Dort wollte man Sanktionen gemeinsam mit der EU beschließen. Nun sind von britischer Seite nur Versicherungen für Schiffe verboten, die russisches Öl nach Großbritannien transportieren.
In den USA wirbt man für einen Deckel beim Ölpreis, nicht für Export-Stopps. Denn sollte Russland weniger Öl auf den Weltmarkt bringen, könnten die Ölpreise extrem steigen. Analysten der amerikanischen „JP Morgan & Chase Bank“ sagen Preise von bis zu 380 Dollar pro Barrel Rohöl voraus. Zum Vergleich: Der höchste Ölpreis wurde bisher 2008 verzeichnet – 150 Dollar pro Barrel. Derzeit liegt der Preis bei etwa 85.
Jetzt will die EU nachziehen und einen Ölpreisdeckel einführen. Als Reaktion auf die Teilmobilisierung Russlands kündigte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Mittwoch ein weiteres Sanktionspaket an, das den Vorschlag für einen Ölpreisdeckel enthält. Dann soll die Ausfuhr nur noch möglich sein, sofern Russland nicht mehr fordert als den vorgeschriebenen Höchstpreis. Das soll an Bedingungen wie Versicherungsleistungen geknüpft sein.
Ob das Versicherungsverbot bestehen bleibt, ist noch unklar. Details werden erst bekannt gegeben, wenn der Europäische Rat zugestimmt hat. Doch während all die kleinen und großen Reedereien für jedes einzelne Land sanktioniert werden müssen, könnten Schiffsclubs und Rückversicherer den Export von russischem Öl jederzeit beenden. Bisher tun sie es nicht.
Dieser Artikel erscheint im Rahmen des Projekts #FuellingWar.
#FuellingWar ist ein gemeinsames Projekt der journalistischen Non-Profit-Organisationen Investigate Europe und Reporters United
Neben den Autoren haben folgenden Reporterinnen und Reporter an der Recherche mitgewirkt: Lorenzo Buzzoni, Thodoris Chondrogiannos, Ingeborg Eliassen, Nikolas Leontopoulos, Kon-stantina Maltepioti, Manuel Rico, Amund Trellevik.
Neben dem Tagesspiegel sind folgende Medienpartner an dieser Untersuchung beteiligt: Bergens Tidende (Norwegen), Il Fatto Quotidiano (Italien), InfoLibre (Spanien), Meduza (Russland), Publico (Portugal).
Das Tagesspiegel Innovation Lab hat diesen Text recherchiert und die Visualisierungen der Recherchen und die internationalen Partner entwickelt.