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Seit 1995, glaubt sich die alte Dame zu erinnern, komme es gefährlich näher. Hört nicht mehr auf, mit jeder Saison weiter in bewohntes Gebiet vorzudringen, obwohl es an dieser Küste kaum je Stürme gibt. Ndeye Yacine Dieng lebt in Bargny, einem Ort mit 70.000 Einwohnern außerhalb des Großraums von Dakar.

Sie deutet auf ein Zimmer ohne Dach und ohne Rückwand. Und dahinter gleich das Meer. Es kracht unerbittlich in ihr Leben. „In den unruhigen Monaten während der Regenzeit rauschen hohe Wellen hier durch“, sagt die 64-Jährige und meint die schmale Gasse zwischen zwei Gebäuden, in der sich ihre Verwandtschaft gerade zum Gang in die Moschee versammelt. „Sie überspülen alles bis zur Hauptstraße.“ Einmal geriet der Stromkasten in einem Nebengelass unter Wasser, Funken sprühten, bis er explodierte.

Das Meer

Dieng, Frau eines Korangelehrten und Großmutter vieler Enkel, holt ein vergilbtes Foto. Es zeigt einen Bruder ihres Mannes fröhlich über den früheren Patio schreiten, einen großzügigen Innenhof, bedeckt mit Muschelschalen, begrenzt durch weitere Gebäude, in denen die Familienzweige einst getrennt voneinander lebten. Davon ist kaum etwas übrig. Eine Abbruchkante aus Betonquadern und porösem Stein, zerfetzten Nylonnetzen, Plastik, Gummireifen und Unrat markiert die vorläufige Grenze zu einem schmalen Strand.

„Aus einem Haus für mehrere Generationen wurde ein Notbehelf. Wir müssen zusammenrücken. Zehn Personen schlafen in einem Raum.“ Und die früheren Steinfundamente dessen, was fehlt, hat Familie Dieng zu einem Wall aufgeschichtet. „Der“, sagt die alte Frau, „wird uns nichts nützen.“

Es ist durchaus so, dass sich Ndeye Yacine Dieng als Opfer des Klimawandels betrachtet.

Deshalb reiste die wortgewandte Dame 2017 als Präsidentin einer lokalen Organisation von Flutopfern zur Klimakonferenz COP nach Bonn. Die Leute hätten gesagt, dass der Anstieg des Meeresspiegels ein globales Problem sei und man gemeinsam gegen den Klimawandel vorgehen müsse, erzählt sie an einem milden Novembertag auf einem Baumstamm sitzend, den eine Welle vor ihrer Haustür abgelegt hat. Sie sei damals gleichzeitig beglückt und deprimiert aus Deutschland wieder abgereist. Beglückt über die Solidarität der vielen Aktivisten. Aber sie begriff auch, dass ihr Problem in den Problemen aller Länder untergehen würde.

Dabei ist ihr Problem so nah – weniger als einen halben Kilometer entfernt, wo der hohe Schornstein eines Kohlekraftwerks seit 2017 wie ein Ausrufezeichen in den Himmel ragt. Die Rauchfahne wird vom Wind aufs Meer hinausgetrieben. Hier, sagt Dieng und zieht einen Kreis um sich und um alles, was sie sieht, hier könne man den vielbeschworenen Zusammenhang zwischen CO₂-Ausstoß und der Zerstörung von Lebensraum „wirklich beobachten“.

Das Kraftwerk

Das Land gilt als aufstrebende Wirtschaftskraft in Westafrika. 2017 betrug sein Wachstum 7,4 Prozent (wegen der Pandemie ging er zuletzt auf 0,9 Prozent zurück). Politisch stabil, seit der Unabhängigkeit 1960 demokratisch regiert, belegt es dennoch einen der hintersten Plätze im Wohlstandsindex der UN.

Gleichzeitig hat die Regierung von Staatspräsident Macky Sall mit dem Plan Sénégal Émergent (PSE) ein ehrgeiziges Entwicklungsprogramm aufgesetzt, in dessen Rahmen eine hochmoderne Ministeriumsstadt vor den Toren Dakars entsteht, samt Nationalstadion, Basketball-Arena, Museen und elektrischem Schnellzug. Auch ein großes Solarkraftwerk gehört dazu. Das Milliardenprojekt gilt als „Versprechen auf einen neuen Senegal“, wie Sall sagt. Schon jetzt soll sich in Dakar die aktivste Start-up-Szene von Afrika tummeln.

Der Westen Afrikas verändert sich - und mit ihm Bargny

Von dieser Dynamik bleiben auch ökonomisch fragile Orte wie Bargny nicht verschont. Die überwiegend von der Kleinfischerei lebenden Familien fragen sich, ob sie in den Plänen des Neuen Senegal noch vorkommen. Und sie wehren sich. „Wir werden das Kraftwerk niemals akzeptieren“, sagt Dieng scharf und meint das Kohlekraftwerk, das bislang über den Probebetrieb nicht hinausgelangt ist und wie ein Wahrzeichen irregeleiteter Ambitionen in der Landschaft steht.

Als das Meer Mitte der 90er Jahre an der flachen Küste Senegals zu nagen begann, sah es noch so aus, als hätte die Regierung ein Ohr für die Sorgen der Menschen. Die Präfektur bot den Bewohnern des zuerst von Landverlusten betroffenen Dorfes Minem an, ihnen neue Parzellen für ihre bedrohten Häuser zu geben. So entstand, zumindest auf Papier, Minem II, ein Areal im Hinterland Bargnys mit 1433 Parzellen, um die Küstenbewohner, aus der Gefahrenzone zu bringen, so dachte man. Viele bezahlten die Vermessungsgebühr von umgerechnet 45 bis 70 Euro.

Die nächste Regierung ignorierte die Pläne des Distrikts und verkaufte das Land 2008 an eine private Projektentwicklungsgesellschaft namens CES. Die versprach für Elektrizität zu sorgen in einer Zeit, da die chronisch überlasteten Stromnetze wiederholt zusammenbrachen. Mit einer geplanten Leistung von 125 Megawatt sollte das Kohlekraftwerk immerhin 40 Prozent des landeweiten Strombedarfs decken.

Doch hatten die Investoren aus Schweden (Nykomb Synergetics Development) und Israel (Quantum Group) zunächst Schwierigkeiten, das erforderliche Kapital aufzubringen. Erst 2016 wurde das „Centrale électrique à charbon“ mit Fördermitteln der Afrikanischen Entwicklungsbank in Höhe von 55 Millionen Euro gebaut, was den Unmut der Bevölkerung überkochen ließ. Dieng spricht nur noch von der „Afrikanischen Bank der Zerstörung“. Es formierten sich Proteste, Aufmärsche und Demonstrationen. Im Netz finden sich Aufnahmen, auf denen eine Menge skandierend durch die Straßen zieht.

„Nicht nur, dass sie unsere Anrechte nicht akzeptieren und Gesetze gebrochen haben“, erbost sich Dieng zunehmend energischer und meint, dass der Mindestabstand der technischen Anlage zu bewohntem Gebiet nicht eingehalten wurde. „Sie sagen, dass der Fortschritt Gutes bringe, aber uns schadet er. Denn sie haben uns das Land weggenommen, auf das wir hätten umsiedeln können, um dem Meer zu entkommen.“

Der Fisch

In Bargny fühlen sich viele von einer Entwicklung in die Zange genommen, die keinen Ausweg lässt. Das Land muss sich entwickeln, weiß auch Dieng. Einige ihrer Enkel gehen in Dakar auf höhere Schulen, profitieren vom Aufschwung. Doch um welchen Preis?

Die Fischbestände gingen zurück, seit die Regierung Fangkonzessionen an Trawler-Gesellschaften aus Europa oder China vergebe. Bevor sie die Schwärme von der Küste aus erreichen könnten, seien diese längst weggefischt. „Ohne moderne Technik sind wir nicht konkurrenzfähig“, sagt Pape Ndiaye, 46.

Seine Freunde haben süßen Tee aufgesetzt, kauern neben dem langen Holzboot, dessen Planken unter schweren Hammerschlägen erzittern. Es wird ausgebessert. Pape Ndiaye ist ihr Anführer, ein stiller Mann mit kahlem Schädel, ein zerkratztes Mobiltelefon in der Hand, der einen aufgebrachten Kollegen durch eine Berührung am Ellbogen zu beruhigen weiß. Seit 20 Tagen, sagt er, sei er nicht mehr draußen gewesen, auf dem Meer. Es habe ja doch keinen Zweck, und eine Fangfahrt, die nichts einbringt, kann er sich nicht mehr leisten. „Dieses Land war reich, wir hatten Fisch.“

Foto: Aldi Diasse

Nach Angaben von USAid gilt die Hälfte der senegalesischen Fischbestände als überfischt und der Fortbestand der anderen Hälfte als bedroht. Eine halbe Million Tonnen würde jährlich aus westafrikanischen Küstengewässern geholt und zu Fischmehl oder -öl verarbeitet, um in Asien oder Europa an Tiere verfüttert zu werden. Ein moderner Trawler kann mit einem einzigen Hol so viel Fisch aus der Tiefe ziehen, wie 50 Pirogen in einem Jahr. Der Raubbau hat bittere Konsequenzen für die traditionellen Strukturen der lokalen Kleinfischerei, von der nach Schätzung von Greenpeace 600 000 Beschäftigte in Senegal abhängen.

Hinzu kommt, dass die Fischer durch die Pandemie monatelang gezwungen waren, an ihrem Heimatort zu bleiben, statt wie gewöhnlich den Fang dort anzulanden, wo er am meisten Profit verspricht. Der Markt brach zusammen. Pape Ndiaye saß fest, „betete“, wie er säuerlich sagt. Ein Frühstück hat er heute noch nicht eingenommen. Der zuckrige Tee in einem kleinen Glas scheint ihm und seinen Männern vorerst genügen zu müssen.

Kapitän Ndiaye gibt zu, dass der Klimaprotest von den Frauen vorort getragen werde. Als würde das Kohlemonstrum sie als Fischer weniger stark betreffen. „Wir sehen kein Ergebnis“, fügt Ndiaye mit Blick auf seine jungen Gefährten hinzu und meint, dass sie durchaus radikaler vorgehen würden, aber sich zurückhalten aus Furcht vor den Konsequenzen ihres Zorns für die Kommune. Ein Marsch würde Aggressionen entfesseln, sagt er mit ernster Miene, die jeder von ihnen tief in sich spüre. Also lieber nicht. Ndiaye hofft, dass Senegal ein Land von Teranga bleibe. Teranga ist das Wolof-Wort für Gastfreundschaft, Höflichkeit.

Eine schwer benennbare Agonie hat Bargny erfasst. Als würde seine eingezwängte Lage zwischen Kohlehalden und Meer in Resignation und Untätigkeit umschlagen.

Das ist auch jenseits des Strandes zu spüren, wo normalerweise zahllose Räucherstellen davon künden, dass ein frischer Fang im schwelenden Feuer von Erdnussschalen geröstet wird. Es ist die traditionelle Art, Fisch haltbar zu machen. Immerhin fast zwei Drittel der senegalesischen Fischerträge werden auf diese Weise weiterverarbeitet, meistens von den Frauen der Fischer, die einen wesentlichen Teil zum Einkommen der Familien beitragen.

Die Frauen

Sie bräuchten eine Pumpe, um es fortzuschaffen. Tatsächlich suchten sie gerade jemanden, der ihnen eine verkaufen könne. In früheren Jahren hätten sie sich eine Pumpe geliehen. Die habe sie jedes Mal umgerechnet 75 Euro gekostet. Eine eigene würde das Zehnfache betragen.

Und dann erzählen sie wild durcheinander, wie es hier normalerweise zugehe. Die Pirogen gingen mit ihrem Fang vor dem Strand vor Anker. Kistenweise würde der Fisch von Männern über dem Kopf durch die Brandung balanciert und auf hochachsige Fuhrwerke verladen, deren Kutscher den Fang zu den Frauen führen. Alles im Laufschritt, damit die Ware in der Hitze nicht verderbe. Eintausend Frauen arbeiteten an ihren Feuerstellen, jede von ihnen beschäftige Helfer, Träger, Fuhrleute, Feuerwachen, was in der Hochsaison 10 000 Menschen einspannt.

Drei Tage dauere der Verarbeitungsprozess jeweils. Dichte Rauchschwaden zögen über die Sandbänke, der Qualm steche in den Augen, raube ihnen den Atem, bevor der geröstete Fisch in Säcke geschippt und an Händler verkauft werde, die ihn ins Innere Afrikas transportieren.

Aber jetzt steht Wasser auf der Ebene.

Wieso hätten eintausend Frauen das Geld für eine Pumpe nicht angespart?

„Wir haben Geld zurückgelegt“, entgegnen sie, „es hilft den Bedürftigen.“

Wieso ihnen die Bedürftigen wichtiger seien als ihr Geschäft?

Das sei es nicht. Gerade gestern hätten sie beschlossen, sagt die kleinste Frau, dass eine Pumpe anzuschaffen Priorität besitzen müsse.

Solange die Frauen nicht weiterkommen, haben sie ihren Männern gesagt, sollten die ihren Fisch woanders verkaufen.

Sicher, so simpel wie die Dinge in Bargny scheinen, sind sie nicht. Das Kohlekraftwerk ging nie ans Netz, technische Probleme der Anlage häuften sich. Bislang ist es eine Investitionsruine, die weniger dem Erdklima als den Bilanzen der Geldgeber geschadet hat. Das rechnen sich die Bürgerbewegungen vorort als Erfolg an. Aber sie haben womöglich nur das Schlimmste verhindert. Ein Plan für die eigene Zukunft ist nicht daraus entstanden.

„Unser Leben ist von jeher einfach“, sagt Dieng bedrückt, „aber Fisch auf traditionelle Art zu fangen und zu räuchern, Boote zu bauen, wie wir es tun, ist kein Wissen, das in den modernen Fabriken benötigt wird. Wir finden dort keine Arbeit.“

Mit Sorge beobachtet die Dame deshalb auch die Bauarbeiten für den Industriepark, der neben dem „Centrale charbon“ entsteht. Eine Landungsbrücke wurde eben südlich von Bargny drei Kilometer weit aufs Meer hinausgetrieben, um Massengutfrachtern die Möglichkeit des Andockens zu geben. Lagerstätten für Düngemittel und Mineralien werden hochgezogen im Senegal Minergy Port (SMP), der mit einer Kapazität von 20 Millionen Tonnen zum Rohstoffzentrum des Landes werden dürfte. Dieng schüttelt den Kopf. Es gebe so viele Kapitalfonds, „aber sie haben nie Geld für das Nötigste. In unserem Fall für einen wirksamer Schutz gegen das Meer.“

Bevor das Wasser das Haus von Familie Dieng erreichte, verschwanden bereits fünf Häuserreihen, ebenso ein Fußballplatz, die frühere Moschee und der Friedhof. „Versunken wie …“, sie sucht nach dem Wort, den Namen jener Stadt, der es ähnlich ergangen ist… „Wie in Atlantis.“

An einem Ort im Süden des Senegal zeigt sich ein anderes Bild: Dank einer Solaranlage können die Bewohner einer Insel dort neuerdings Eis herstellen – und damit die Wirtschaft ankurbeln. Reicht das, um eine Zukunft aufzubauen? Ist Eis besser als Drogen zu verkaufen? Unsere Reportage aus Saloulou können Sie hier lesen.

Klimaaktivistinnen in Afrika
Über das Projekt

Das Projekt

Dieser Artikel ist Teil einer einjährigen Recherche zu den Folgen des Klimawandels in besonders betroffenen Regionen in Afrika. Dabei liegt der Hauptfokus auf Klimaaktivistinnen, die vor Ort versuchen, Probleme aufzuzeigen und Lösungen zu finden.

Die globale Klimabewegung wird von jungen Frauen geprägt. Hierzulande stehen Aktivistinnen wie die Schwedin Greta Thunberg im Vordergrund - oder Luisa Neubauer, das deutsche Gesicht von “Fridays for Future”. Ihre Mistreiterinnen aus Afrika werden oft übersehen, dabei sind ihre Länder schon heute viel stärker von der Klimakrise betroffen.

Im Rahmen des Projekts A Female Fight for the Future begleitet der Tagesspiegel ein Jahr lang Klimaaktivistinnen in afrikanischen Ländern und visualisiert klimarelevante Entwicklungen. Wir schauen uns Projekte vor Ort an, mit denen der Klimawandel bekämpft werden soll, zeigen, wie sich neue politische Netzwerke bilden und zeigen, wo Menschen schon heute besonders unter der ökologischen Krise leiden.

Alle bisherigen Artikel aus der Serie finden Sie auf der Projektseite.

Die Finanzierung:

Das Rechercheprojekt wird vom European Journalism Centre im Rahmen des European Development Journalism Grants Programms finanziert. Unterstützt wird dieses Programm von der Bill&Melinda Gates Stiftung.

Das Team

Nina Breher
Produktion
Aldi Diassé
Fotografie
David Meidinger
Webentwicklung
Kai Müller
Recherche und Text
Thomas Weyres
Artdirektion
Veröffentlicht am 22. Januar 2022.
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