Ost gegen West, Stadt gegen Land? Kurz vor den Landtagswahlen im Osten vergrößern sich die geografischen Risse, die sich durch Deutschland ziehen. 35 Jahre nach der Wiedervereinigung könnten sie eine andere Form annehmen – auch wegen des neuen Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). In den neuen Bundesländern erlangt es immer stärkere Umfragewerte. Der AfD scheint es aber kaum Stimmen abzugewinnen. Die CDU hingegen, lange dominant in den neuen Bundesländern, verliert weiter an Zustimmung.
Ortsgenaue Langzeit-Umfragedaten aus dem Forschungsprojekt SOSEC, an dem der Tagesspiegel neben dem FZI Forschungszentrum Informatik und Karlsruher Institut für Technologie (KIT) beteiligt ist, zeigen, in welchen Regionen AfD und BSW die politische Landschaft besonders erschüttern.
Aber wie stark liegt es wirklich an Ost und West? Oder ist das doch eher ein Vorurteil, Mauer in den Köpfen, während es in Wahrheit um Stadt-Land-Unterschiede geht? Das haben wir genauer analysiert, neben zahlreichen weiteren sozialen Faktoren. Es zeigt sich: Ernsthafte regionale Unterschiede gibt es nicht bei allen Parteien, aber besonders bei AfD, BSW und CDU.
Noch im April lag die CDU in den ehemaligen Ost-Bundesländern der FZI-Sonntagsfragen-Umfrage zufolge vorn, war mit 22 Prozent genauso stark wie in den West-Bundesländern. Jetzt, kurz vor den Landtagswahlen, haben AfD und das BSW die CDU überholt, die mit 18 Prozent auf Platz drei landet. Im Westen ist es derzeit genau umgekehrt: AfD und BSW stagnieren, die CDU hat Erfolg. Diese Trends verstärken sich jetzt, kurz vor den Landtagswahlen.
Lange hat es in der Nachwende-Parteienstruktur im Osten wenig Veränderungen gegeben, sagt Conrad Ziller, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen. „Jetzt ist mit AfD und BSW viel Bewegung drin.“ Ihre Wähler*innen seien stark getrieben von einem anhaltenden Gekränktsein von der Wendezeit und dem Wunsch nach einer positiven ostdeutschen Identität.
Mit aktuell 13 Prozentpunkten mehr Zustimmung im Osten ist die neue Wagenknecht-Partei mehr noch als die AfD eine Ostpartei. „Vor allem in den östlichen Bundesländern ist das BSW auf dem Vormarsch, überproportional in ländlichen Regionen“, zulasten der CDU, sagt Ziller.
„Menschen, die davor zurückgeschreckt haben, die AfD zu wählen, haben mit dem BSW eine Ausweichoption, die soziokulturell ebenfalls sehr konservativ bis rechts ist“, zugleich aber wirtschaftspolitisch links. „Das zieht in Ostdeutschland bei Menschen, die sich abgehängt fühlen.“ Zudem biete Sahra Wagenknecht „eine Projektionsfläche für die Aufwertung der ostdeutschen Identität“.
In anderen Sonntagsfragen der Umfrageinstitute sind die Trends etwas schwächer als in den FZI-Daten. In Sachsen etwa landet die CDU in der jüngsten Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen mit 33 Prozent wieder vor der AfD mit 30 Prozent, das BSW nur noch bei 11 Prozent. Jedoch schwanken die Umfragen zwischen den verschiedenen Instituten.
In den westlichen Bundesländern ist es umgekehrt: Die CDU wird den FZI-Daten zufolge beliebter, ist von 22 auf 27 Prozent geklettert. Alle anderen Parteien verlieren an Zuspruch – bis auf die Grünen. Sie nehmen jedoch lediglich um einen Prozentpunkt zu. Zwar stehen die Bundestagswahlen erst 2025 an. Die Umfragen zeigen jedoch nicht nur, wie geteilt die Stimmung im Land ist, sondern dass sich diese Tendenz verstärkt. Das könnte zu einem sehr polarisierten Wahlkampf führen.
Damit verstärkt sich ein Trend noch einmal deutlich, der bereits existiert. Betrachtet man, welche Parteien in welchen Bundesländern beliebt sind, ergibt sich für die Wähler*innenschaft von AfD, BSW und CDU ein auffälliges Ost-West-Muster. AfD und insbesondere das neue BSW sind im Osten beliebt, die CDU im Südwesten.
Die Unterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung vergrößern sich kurz vor den Wahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ebenfalls. Während die CDU – analog zu den Umfragewerten in den westlichen Bundesländern – in den Städten an Zustimmung gewinnt, werden AfD und BSW auf dem Land populärer.
Während die CDU üblicherweise auf dem Land höhere Zustimmung erhält als in der Stadt, wie zuletzt eine Studie der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung von April 2024 bestätigte, ist sie in der aktuellen SOSEC-Umfrage von August in den Städten gleichauf mit den Ergebnissen auf dem Land. Die CDU könnte Wähler in den ländlichen Regionen Deutschlands verlieren.
Dorothea de Nève ist Professorin an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Unter anderem habe die CDU „auch im ländlichen Raum Stimmen verloren, weil sie hier nicht mehr als Partei der Bauern punkten kann“, sagt die Politikwissenschaftlerin. Das gelte insbesondere für den Osten Deutschlands, aber auch für Niedersachsen.
Es gehe dabei nach darum, dass ländliche Regionen vermeintlich abgehängt seien, sondern „um tatsächlich andere Lebensbedingungen – in Bezug auf Diversität der Bevölkerung, Arbeitsbedingungen, Wohnen, Zugang zu Bildung und Kultur etc.“
Conrad Ziller von der Universität Duisburg-Essen betont, wachsende Stadt-Land-Unterschiede seien „eher langfristige Entwicklungen“, also etwa Umzüge junger Menschen in die Städte. Er warnt davor, den Stadt-Land-Unterschied überzubewerten, auch weil ländliche Regionen in Ost und West teilweise unterschiedlich strukturiert seien. Ländliche Gebiete in Baden-Württemberg etwa seien öfter wohlhabend, geprägt von einem starken Mittelstand.
Auch bei anderen Parteien gibt es Unterschiede zwischen der Parteipräferenz der Menschen auf dem Land und der Stadt. Am deutlichsten sind die Unterschiede bei BSW und den Grünen.
Aber Stadt-Land-Frust hin oder her: Der Ost-West-Unterschied ist fast überall größer. Nur die Grünen sind in den Städten deutlich beliebter – im Osten ist dieser Effekt noch stärker als im Westen.
Insgesamt prägt der Ost-West-Unterschied das politische Deutschland 2024 weiterhin stärker als der zwischen ruraler und urbaner Bevölkerung. Die Landtagswahlen im September und Oktober und die Bundestagswahlen 2025 könnten das bestätigen.
Auch andere Unterschiede in der Gesellschaft prägen die Zustimmungswerte zur AfD – jedoch keiner davon so stark wie der zwischen ehemaliger DDR und Bundesrepublik. Vergleichsweise groß ist der Geschlechtsunterschied. 18 Prozent der Männer geben an, AfD wählen zu wollen. Unter den Frauen und 12 Prozent. Ein Unterschied von sechs Prozentpunkten also. Der zwischen Ost und West beträgt neun.
Auch das Alter prägt die Wahlentscheidung nicht so deutlich. Menschen unter 40 wählen 14,9 Prozent die AfD, bei Menschen über 40 sind es 15,2 Prozent. Beim BSW sind es sieben beziehungsweise zehn Prozent.
Das Einkommen – im Osten durchschnittlich niedriger als im Westen – macht mit Blick auf die AfD ebenfalls einen eher kleinen Unterschied. In ganz Deutschland stimmen Menschen in allen Einkommensgruppen der AfD mit 14 bis 16 Prozent zu. Größer ist der Unterschied beim BSW: Nur vier Prozent der Menschen mit sehr hohem Einkommen präferieren die Partei, während zwölf Prozent der Menschen mit sehr niedrigem Einkommen die Wagenknecht-Partei wählen wollen.
All diese demographischen Merkmale liefern weitere Erklärungsansätze für die Parteipräferenz – so deutlich wie der Unterschied zwischen Ost und West ist für sich genommen aber keines von ihnen.
Im Osten befürchtet Politikwissenschaftler Ziller nun „eine Spirale nach unten“ – auch angesichts der in Ostdeutschland seit Jahren salonfähigeren rechten Positionen, vorbereitet von NPD, DVU und Skinhead-Bewegung.
Wenn die Koalitionsbildung nach den Wahlen im Osten erwartungsgemäß schwierig wird, könnten viele Menschen dort das als politischen Stillstand wahrnehmen. Das könnte laut Ziller die Zustimmung zur Demokratie im Osten noch weiter schwächen. Und das wiederum könne insgesamt den Wirtschaftsstandort Ostdeutschland schädigen, was noch mehr Frustration und Zukunftsängste befördere.
Dann würden die kommenden Landtagswahlen das Gefühl des Abgehängtseins im Osten, das AfD und BSW so vehement behaupten zu bekämpfen, letztlich weiter verstärken.