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Berlins politische Landschaften
So unterschiedlich wählen arme, alte und religiöse Kieze
Das amtliche Wahlergebnis ist da. In Berlin haben SPD und Grüne die meisten Stimmen bekommen. Aber was wäre, wenn nur Ältere gewählt hätten?
Die grünen Flecken würden verschwinden, viele schwarze bleiben. Wo viele Menschen über 65 wohnen, sind die Volksparteien noch Volksparteien. CDU und SPD hätten mit Abstand gewonnen.
Und wenn nur die jüngsten Kieze gewählt hätten? Dann wären die Grünen stärkste Kraft, Die Linke an zweiter Stelle. In Wahlbezirken mit wenigen Alten suchen die Volksparteien ihr Volk vergebens.
Das gilt für das ganze Gebiet innerhalb des S-Bahn-Rings. Viele junge Kieze sind hier. Prägt die urbane Lage die Wahlentscheidung – oder doch das Alter? Schwer zu sagen.
Klar ist: Innerhalb des Rings steigen die Mieten stark. Wo Jüngere wohnen, mangelt es also oft an bezahlbarem Wohnraum. Vielleicht nicht überraschend, dass sie das Volksbegehren „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ mit 67% angenommen haben - auch in den jüngeren Außenbezirken stimmten viele dafür.
Im Gegensatz zum alten Stadtrand. Das Drittel der Wahlbezirke, in denen die meisten Alten wohnen, hätte das Volksbegehren sogar abgelehnt – knapp mit 47,5 zu 47%.
In manchen älteren Nachbarschaften sogar mit Abstand. Zum Beispiel in diesem Wahlbezirk in Grunewald, wo der Hohenzollerndamm auf die Clayallee trifft. Inmitten von Seen, Wald, und Villen stimmten berlinweit die wenigsten mit „Ja“.
Insgesamt ist der Berliner Südwesten eher älter - und stand dem Volksbegehren skeptischer gegenüber als manch andere Gegend.
Während die einen in Villen wohnen, bangen andere um ihre Wohnungen. Die Karte zeigt Gegenden, in denen viele Hartz-IV-Empfänger leben. Diese Ecken gibt es fast überall in der Stadt.
Von wem wollen Straßenzüge regiert werden, in denen viele sozial Benachteiligte leben? Die Menschen hier wählten eher Linke, SPD und AfD als Gesamt-Berlin, seltener FDP, CDU und Grüne. Riesig sind die Unterschiede zu Gesamt-Berlin aber nicht.
Der Unterschied liegt nicht bei den Parteipräferenzen. Zu sehen sind Kieze mit niedriger Wahlbeteiligung. Die meisten von ihnen sind zugleich die mit besonders vielen Arbeitslosen. Nachbarschaften, in denen viele Hartz IV erhalten, sind häufig die, in denen nur wenige wählten.
So ist der Wahlbezirk mit den meisten Hartz-IV-Empfängern zugleich der mit der niedrigsten Wahlbeteiligung: die Gegend um die Neuköllner High-Deck-Siedlung.
Hier haben nur 48% der Wahlberechtigten gewählt. Das sind weniger als hier auf Geld vom Jobcenter angewiesen sind: 56,4%.
Nur vier Kilometer westlich, in einem Neuköllner Wahlbezirk im Stadtteil Britz, lag die Wahlbeteiligung bei 86,2%. 1,1% beziehen Hartz IV. In Berlin ist die eine Welt nie weit von der anderen entfernt.
Andere Berliner Welten sind geografisch klar erkennbar. Die ehemalige Ost-West-Teilung der Stadt erscheint, sobald man zeigt, wo wenige Menschen mit Migrationshintergrund wohnen ...
… und wo viele. Die Wahlergebnisse dieser Gegenden unterscheiden sich nicht fundamental von den kaum migrantisch geprägten. Die Grünen gewinnen mehr Stimmen, die AfD verliert in Nachbarschaften, in denen Migration längst gelebte Realität ist.

Die Wahlergebnisse in der Karte zeigen die Zweitstimmen zur Berliner Abgeordnetenhauswahl für Urnen- und Briefwahl. Zusammen mit wahlbezirksgenauen Daten zu sozialen und demografischen Merkmalen lässt sich auf kleinster Ebene vergleichen, wie Nachbarschaften mit unterschiedlichen Bewohnern wählen.

Die Daten zeigen zum Beispiel: Wo viele Hartz-IV-Empfänger gemeldet sind, blieben überdurchschnittlich viele der Wahl fern. Das könnte bedeuten, dass es in der politischen Berliner Landschaft keine Partei gibt, von der Arme sich vertreten fühlen. Studien, etwa der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, bestätigen, dass Geringverdienende deutlich seltener wählen gehen.

Je mehr Hartz-IV-Empfänger, desto niedriger die Wahlbeteiligung
Die Grafik vergleicht den Anteil der Hartz-IV-Empfänger mit der Wahlbeteiligung bei der Abgeordnetenhauswahl. Wahlbezirke innerhalb des S-Bahn-Rings sind rot eingefärbt, die außerhalb des Rings blau.
Nicht alle Hartz-IV-Empfänger besitzen die deutsche Staatsbürgerschaft, die nötig ist, um wählen zu dürfen. Deshalb sind die verglichenen Mengen nicht deckungsgleich.
Landeswahlleiterin, Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, eigene Berechnungen

Natürlich ist es möglich, dass andere dort lebende Wahlberechtigte nicht zur Wahl gingen. Zudem stammen die verfügbaren Daten zu Hartz IV von Dezember 2019, der Anteil kann sich seitdem geändert haben. Trotzdem zeigen die Daten einen deutlichen Zusammenhang zwischen dem Anteil der Hartz-IV-Empfänger und der Wahlbeteiligung in einem Kiez.

Volksentscheid: Konservativ geprägte Umfelder wollen seltener enteignen

Auch die Daten zum Volksentscheid „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ zeigen, in welchen Nachbarschaften das Konzept der Initiative Zustimmung fand. So lässt sich berechnen, dass in Stimmbezirken mit den meisten Stimmen für die CDU statistisch betrachtet seltener für „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen“ gestimmt wurde.

Am unbeliebtesten ist der Volksentscheid in CDU- Hochburgen
Die Balken zeigen, wie groß die Zustimmung zum Volksbegehren in den 300 Wahlbezirken war, in denen die jeweilige Partei bei der Abgeordnetenhauswahl die meisten Stimmen erhalten hat.
Für die Berechnungen wurden die Ergebnisse der Zweitstimmen verwendet.
Landeswahlleiterin, Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, eigene Berechnungen

Ähnlich, wenn auch weniger deutlich, ist die Lage in den FDP-Hochburgen. In Wahlbezirken mit hohem Anteil an Grünen- und Linkspartei-Wählenden stimmten tendenziell mehr Menschen für „Deutsche Wohnen und Co. Enteignen“. In Regionen mit vielen SPD- und AfD-Wählenden ist kein klarer Zusammenhang zu erkennen – sie stimmen weder auffällig oft dafür noch auffällig oft dagegen. Beide Parteien hatten den Volksentscheid abgelehnt.

Bezieht man außer den Wahlergebnissen der Parteien auch die strukturellen Daten der Wahlbezirke mit ein, zeigt sich: Wo viele Christen oder viele Verheiratete leben, wurde das Volksbegehren stärker abgelehnt als anderswo. Man könnte vermuten, dass konservativ geprägte Bevölkerungsgruppen das Volksbegehren eher ablehnten. In international geprägten Wahlbezirken stimmte man mehrheitlich dafür.

In christlich geprägten Kiezen ist der Volksentscheid unbeliebter
Die Grafik zeigt, wie groß die Zustimmung zum Volksbegehren in Wahlbezirken mit verschiedenen strukturellen Merkmalen war. Für den Vergleich wurde jeweils die 300 Wahlbezirke mit dem höchsten Anteil der Einwohner mit dem jeweiligen Merkmal (katholisch oder evangelisch, verheiratet, EU-Staatsbürgerschaft, Migrationshintergrund) ausgewertet.
Die Daten enthalten nur Einwohner, die Mitglied der katholischen oder evangelischen Kirche sind. Angehörige anderer Religionen sowie Christen anderer Kirchengemeinden sind nicht enthalten.
Landeswahlleiterin, Amt für Statistik Berlin-Brandenburg, eigene Berechnungen

Was letztendlich die Entscheidung der Wählenden beeinflusst hat, lässt sich anhand der Daten nicht sagen. Die Analyse lässt aber vermuten, dass „Deutsche Wohnen und Co. enteignen“ in konservativeren Umfeldern abgelehnt wird.

Natürlich können Alter, sozialer Status oder Familienstand individuelles Wahlverhalten nicht voraussagen. Eine Wahlentscheidung hängt von vielen Faktoren ab. Trotzdem geben die Daten Hinweise und zeigen Tendenzen auf, wie sich Berlins Kieze politisch positionieren.

Welche Merkmale hat Ihr Wahlbezirk, wie haben Ihre Nachbarn gestimmt – und wie war die Wahlbeteiligung? In der interaktiven Karte können Sie selbst Merkmale und Wahlergebnisse miteinander vergleichen.

Die Autorinnen und Autoren

Benedikt Brandhofer
Design
Nina Breher
Text & Analyse
Tamara Flemisch
Entwicklung
Manuel Hirzel
Datenverarbeitung
Manuel Kostrzynski
Artdirektion
David Meidinger
Datenaufbereitung & Webentwicklung
Helena Wittlich
Datenaufbereitung & Redigatur
Veröffentlicht am 19. Oktober 2021.
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