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Eine Partei – verschiedene Versprechen

Die Parteipositionen unterscheiden sich teils fundamental nach Bezirken

Nicht immer vertreten Parteien im eigenen Bezirk die Ansichten, für die sie auf Landesebene bekannt sind. Besonders großen Dissens gibt es bei SPD und AfD.
Nicht immer vertreten Parteien im eigenen Bezirk die Ansichten, für die sie auf Landesebene bekannt sind. Besonders großen Dissens gibt es bei SPD und AfD.

Eine FDP, die sich für die Verkehrswende stark macht und dafür auch Autos benachteiligen würde; eine CDU, die sich nicht einig ist, ob Falschparker konsequent abgeschleppt werden sollen: Während die Wahlprogramme der Parteien auf Bundes- und Landesebene recht konsistent daherkommen, warten in der Berliner Bezirkspolitik überraschende Unterschiede. Denn die Positionen innerhalb einer Partei unterscheiden sich zwischen den Bezirken teils massiv. Bei SPD und AfD ist der Dissenz besonders ausgeprägt. Bei den Grünen gibt andere Auffälligkeiten… Das zeigt eine exklusive Datenauswertung von Tagesspiegel und HU Berlin.

Die Daten stammen aus dem „Berlin-O-Mat“ – einem Tool, das Tagesspiegel und Forscher:innen der Humboldt-Universität entwickelt hat. Dort können Interessierte herausfinden, mit welchen Parteien sie die höchste Übereinstimmung haben – zum Beispiel: „Die Präsenz des Ordnungsamts im öffentlichen Raum sollte erhöht werden.“ Wurden genug Thesen bewertet, bekommen Nutzer:innen angezeigt, welche Parteien am stärksten mit den eigenen Interessen übereinstimmen – auf Landesebene und auf Bezirksebene.

Um diese Einordnung vorzunehmen, wurden einige Dutzend Thesen an die Landes- und Bezirksverbände aller antretenden Parteien zur Bewertung geschickt. Analysiert man die Antworten der Bezirksverbände, zeigen sich jedoch große Unterschiede. Besonders auffällig ist die Uneinigkeit zwischen den Bezirken bei SPD und AfD. Die größte Abweichung der Bezirksverbände von der Linie der Landespartei gibt es jedoch bei CDU und FDP. Die Grünen fallen mit großer Geschlossenheit auf.

Parteipositionen im Bezirksvergleich
Die Grafik zeigt, welche Positionen die Parteien im Bezug auf die ausgewählte These vertreten. Auswählbar sind hier nur Thesen, die sowohl den Bezirksparteien als auch der jeweiligen Landesparteien gesendet wurden. Wenn Sie über einen Bezirk fahren, sehen Sie die Begründung der Partei.

Zum Beispiel diese These: „Alle politischen Entscheidungen sollten auf ihre Auswirkungen auf das Klima geprüft werden.“ Einigkeit bei den Grünen: Alle Bezirksverbände stimmen voll zu, ebenso die Landes-Grünen. Bei der Linken schwanken die Antworten geringfügig, zwischen Zustimmung und starker Zustimmung. Die AfD ist geschlossen dagegen – außer in Friedrichshain-Kreuzberg, wo die Partei die Frage neutral bewertet.

FDP und CDU weichen besonders von der Landeslinie ab

Zwischen den verschiedenen FDP-Bezirksverbänden herrscht in der Klimafolgen-Frage hingegen völlige Uneinigkeit: Die Positionen reichen von völliger Ablehnung in Pankow über neutral in Steglitz-Zehlendorf bis hin zu Zustimmung in Tempelhof-Schöneberg. Ähnlich bei der CDU, die in Pankow absolut dafür ist, die Klimafolgen politischer Entscheidungen abzuschätzen, in Neukölln und Friedrichshain-Kreuzberg allerdings dagegen.

Diese Unterschiede gibt es aber nicht nur zwischen den verschiedenen Bezirksverbänden, sondern auch zwischen Bezirken und der Position der Landespartei. Während einige Parteien eine relativ konsistente Linie haben, unterscheiden sich die Bezirksverbände anderer Parteien deutlich von den Positionen ihrer Landespartei. Das zeigt sich anhand der oben gezeigten Fragen, die sowohl allen Bezirksverbänden als auch der Landespartei gestellt wurden.

Die CDU-Bezirksverbände sind sich am häufigsten uneinig mit ihrem Landesverband – und zwischen den Bezirksverbänden. Zwei Thesen, bei denen es besonders viele unterschiedliche Antworten gibt, betreffen Gleichstellungsfragen: So ist die Landes-CDU dafür, dass der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund in der Verwaltung erhöht werden sollte. Die Bezirksverbände Tempelhof-Schöneberg, Steglitz-Zehlendorf und Marzahn-Hellersdorf lehnen das aber ab.

Sozialwohnungen und Geschlechterfragen

Auch die These „Führungspositionen in der Verwaltung und in öffentlichen Unternehmen sollten in gleichen Teilen von Frauen und Männern besetzt werden“ stößt in der CDU auf geteilte Meinungen: Charlottenburg-Wilmersdorf und Marzahn-Hellersdorf sind sehr dafür, sechs andere Bezirke aber lehnen das ab. In Pankows CDU ist man sogar stark dagegen. Vielleicht bleibt die Landes-CDU in dieser Frage also „neutral“, weil sie innerparteilich kontrovers ist. Und auch bei rein lokalpolitischen Fragen wie der Frage, ob in Wohngebieten mehr Spielstraßen geschaffen werden sollen, sind die CDU-Ortsverbände sehr unterschiedlich positioniert. Oder bei Sozialwohnungen. Die CDU Friedrichshain-Kreuzberg ist der Meinung, es würden bereits genug Sozialwohnungen bei Neubauten berücksichtigt, in anderen Bezirken wünschen sich ihre Vertreter mehr davon.

Selbst bei den sich so einigen Grünen zeigen sich beim Blick in die Bezirksantworten einige Abweichungen zur Landeslinie: Im wohlhabenden Steglitz-Zehlendorf, Heimat auch des Wannsees und der Havel, ist man beispielsweise nicht dafür, dass alle größeren Berliner Gewässer öffentlich zugänglich sein sollten – entgegen den Schwestern- und Dachverbänden. Die Frage wird vorsichtig mit „neutral“ bewertet. Der Vergleich der Landes- und Bezirkslinien zeigt: Die Uferfrage ist die, bei der Landes- und Bezirksgrüne sich am wenigsten einig sind.

Auch im Streit um die Frage, ob besetzte Häuser und Wagenplätze ohne Genehmigung geräumt werden sollten (was die grüne Landes- und die meisten grünen Bezirksverbände ablehnen) ist die Partei in Steglitz-Zehlendorf neutral – ebenso in Pankow.

Auf Nachfrage erklärt ein CDU-Sprecher die unterschiedlichen Standpunkte innerhalb seiner Partei so: „Es liegt bei der Größe Berlins und der politisch gewollten starken Stellung der Bezirke auf der Hand, dass die Antworten auf gewisse Fragen in den jeweiligen Bezirken unterschiedlich akzentuiert werden.“

Stattdessen betont der Sprecher, dass man Bürger:innen je nach Bezirk und Kiez ein Angebot machen wolle, das ihren Bedürfnissen vor Ort entspreche. Als Beispiel nannte er die Verkehrspolitik. Die Herausforderungen in einem Außenbezirk seien oftmals ganz andere als die in der Innenstadt. „Dementsprechend müssen auch die Antworten andere sein.“

Die FDP begründet ihre uneinheitlichen Positionen mit der Unabhängigkeit ihrer Ortsverbände. Diese könnten frei entscheiden, sagte ein Sprecher. „Wenn Sie einzelne Bezirke anfragen, dann müssen sie natürlich auch die Umstände im Bezirk betrachten.“ Ob etwas „stärker unterstützt“ werden müsse, hänge auch davon ab, wie stark etwas vor Ort bereits unterstützt wird.

Bei lokalpolitischen Sachfragen klingt das logisch. Allerdings zeigt sich sowohl bei der FDP als auch bei der CDU, dass die Parteien auch grundlegende politische Fragen je nach Bezirk unterschiedlich bewerten. Beispiel Klima: Dass die Abwägung von Klimafolgen eher eine grundsätzliche ethische Haltung ist und weniger eine Sachfrage. klang weder in der Begründung der CDU noch in dem Statement der FDP an. Auch bei Fragen zur Frauenquote in öffentlichen Unternehmen oder bei der These „Der Anteil von Personen mit Migrationshintergrund in der Verwaltung sollte erhöht werden“ wirkt es auf den ersten Blick unlogisch, dass lokal verschiedene Positionen von derselben Partei vertreten werden.

Auch die Grünen sind sich nicht überall einig. Die Daten zeigen: Vor allem in Pankow sind die Grünen oft anderer Ansicht als im Abgeordnetenhaus, das gleiche gilt für die FDP in dem Bezirk. Die CDU tickt in Friedrichshain-Kreuzberg anders, SPD und Linke in Berlin-Mitte. Und die AfD ist in Marzahn-Hellersdorf oft anderer Ansicht als man erwarten könnte.

Innerparteilicher Dissens: Fehlende Linie oder funktionierende Demokratie?

Ist das nicht unglaubwürdig, so viel Unterschied in ein und derselben Partei? Jochen Müller ist Professor für deutsche Innenpolitik an der Humboldt-Universität und forscht unter anderem zu parlamentarischen Prozessen. Er und seine Studierenden haben den Berlin-O-Mat mit den lokalen Expert:innen des Tagesspiegels zusammen entwickelt. Die Ergebnisse sind seiner Einschätzung nach eher ein Grund zur Begeisterung: „Das ist eigentlich ein großartiger Nachweis von Demokratie“, sagt er. Unterschiede zwischen Parteiverbänden würden etwa zeigen, dass die Landes- den Bezirksverbänden nicht reinreden. Und dass Parteien auf lokaler Ebene andere Probleme und Meinungen vertreten als in Land oder Bund. Das zeige, wie wichtig Bezirkswahlen seien, um lokalen Unterschieden gerecht zu werden.

Aber sind Parteien dann intern mehr mit Streiten beschäftigt als damit, die Probleme der Stadt in Angriff zu nehmen? „Ich würde solche Unterschiede nicht zwangsläufig als Streit sehen oder als Problem“, sagt Müller. Die Abgeordneten würden von ihrem Umfeld geprägt. „Die orientieren sich schon rein rational an den Menschen und ihren Forderungen vor Ort.“ “Diese beiden Motivationen – Zusammensetzung der Partei vor Ort und verschiedene Zielgruppe vor Ort – müssen aber nicht immer gleichzeitig zutreffen. Das sei für die verschiedenen Regionen in Deutschland schon öfter belegt worden. Und die Bezirke Berlins seien wohl genauso unterschiedlich.

Die Unterschiede zwischen den Bezirken

Die obige Berlin-Grafik hat sich besonders damit beschäftigt, welche Bezirksparteien von ihren Landesparteien abweichen. Anders sieht es aus, wenn man die rein lokalpolitischen Fragen betrachtet. Hier erweisen sich von den Größeren besonders die SPD, AfD und CDU als Parteien mit den meisten Meinungsverschiedenheiten. Und auch hier fallen die Grünen durch Geschlossenheit auf.

47 Fragen wurden in allen Bezirken gestellt. Bei diesen ging es besonders um lokale Angelegenheiten, in denen die Landesregierung weniger mitzureden hat.

Bei welchen Parteien sind die Unterschiede zwischen den Bezirken besonders groß?
Die Grafik zeigt, wie stark die Positionen der einzelnen Parteien im Durchschnitt voneinander abweichen. Je höher der Wert, desto stärker variieren die Ansichten von Bezirk zu Bezirk.
Um die Abweichung zu berechnen, haben wir den Antwortmöglichkeiten Zahlen zugeteilt („starke Ablehnung” = 0 Punkte, „starke Zustimmung” = 4 Punkte) und den sogenannten Median für jede Partei berechnet. Dieser Wert wurde von allen Antworten der entsprechenden Partei abgezogen. Aus dem Mittelwert der Ergebnisse lässt sich ablesen, wie stark die Ansichten zwischen den Bezirksverbänden durchschnittlich variieren.

Von den aktuell im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien sind sich die Grünen dabei sehr auffällig am einigsten. Wie es dazu kam? Die Kreisverbände hätten um Unterstützung gebeten und offenbar viele der Formulierungsvorschläge übernommen, teilt ein Grünen-Sprecher auf Nachfrage mit.

Unter den Kleinstparteien stechen in Sachen Binnendifferenzen insbesondere die Freien Wähler heraus. Dort scheint man die im Namen festgeschriebene Wahlfreiheit so zu schätzen, dass je nach Bezirk teilweise völlig konträre Positionen vertreten werden. Auf dem politischen Spektrum ließen sie sich in vielen Fragen in Berlin kaum einheitlich verorten.

In welchen Fragen in einer Partei Dissens herrscht, ist übrigens keinesfalls gleich. Die Streitpunkte liegen bei verschiedenen Fragen.

In diesen Fragen herrschen besonders große Meinungsverschiedenheiten
Die Tabelle zeigt, in welcher Frage zwischen den Bezirksverbänden einer Partei am meisten Uneinigkeit herrscht, also die Schwankungen am größten sind.

Es lohnt sich also, einen Blick ins Bezirks-Wahlprogramm zu werfen. Nur bei einer Partei kann man sich das sparen: Bei Die Partei. Die Satirepartei fällt durch das chaotischste Antwortverhalten aller antretenden Parteien auf. Vielleicht haben die Ortsverbände schlicht zufällig geantwortet. Ihr Parteivater Martin Sonneborn hatte das einmal als Strategie erklärt. Bei Abstimmungen im EU-Parlament stimmt er aus Prinzip willkürlich dafür oder dagegen.

Die Autor:innen

Nina Breher
Datenanalyse & Text
Hendrik Lehmann
Recherche & Text
David Meidinger
Datenvisualisierung
Sonja Wurtscheid
Text
Veröffentlicht am 6. September 2021.
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