Nach Semestern des erzwungenen Corona-Fernstudiums strömten junge Menschen 2022 wieder in die Städte. Doch dort bahnt sich eine neue Krise an: WG-Zimmerpreise steigen schneller als die für reguläre Wohnungen, Energiekrise und Inflation verstärken den Trend. In einigen Städten ist es besonders drastisch. Und es gibt Monate, in denen es besonders teuer ist, ein Zimmer anzumieten. Diese Datenanalyse zeigt das Ausmaß der WG-Preisspirale für Berlin, Köln, Stuttgart, Frankfurt, Hamburg und München.
Studierende mit wenig Geld sind von den Mietsteigerungen besonders betroffen. Das Problem: Eigentlich sollen Bafög-Sätze regionale Unterschiede in Deutschland ausgleichen. Zwar hat die Bundesregierung das Bafög 2022 um 5,75 Prozent erhöht. Die Inflation ist mit derzeit 10,0 Prozent aber fast doppelt so hoch. Um ein durchschnittliches Zimmer in einer deutschen Großstadt anzumieten, reicht die im Bafög vorgesehene Wohnkostenpauschale von 360 Euro längst nicht mehr. Das zeigen Daten der Plattform WG-Gesucht.de.
Besonders schnell sind die Angebotspreise für WG-Zimmer in den vergangenen Jahren in Berlin gestiegen – um 37 Prozent von durchschnittlich 417 Euro im Januar 2018 auf 572 Euro im November 2022. Wer im traditionell teuren München neu mietet, zahlt hingegen nur 12 Prozent mehr als Anfang 2018. Das sind dann aber auch satte 725 Euro. Unmöglich bezahlbar ohne wohlhabende Eltern oder Erbe.
Auf den Startzeitpunkt der Miete kommt es besonders an. Jedes Jahr im September, also unmittelbar vor dem Wintersemesterbeginn im Oktober, schnellen die Preise in vier der sechs untersuchten Städte in die Höhe – in Berlin, Hamburg, Köln und Stuttgart. Ab Oktober fallen sie wieder.
Im September 2022 kosteten WG-Zimmer in Berlin im Schnitt 24 Euro mehr als im August. WG-Gesucht führt die September-Spitzen auf die „gestiegene Nachfrage“ zu Semesterbeginn zurück. Vermieter von WG-Zimmern würden die Gelegenheit außerdem nutzen, „den Preis an das aktuelle Mietniveau anzupassen“, sagt Firmensprecherin Annegret Mülbaier.
Das ist bei WGs häufiger und einfacher möglich als bei Wohnungen: Im Schnitt werde ein WG-Zimmer alle zweieinhalb Jahre neu vergeben, sagt Mülbaier. Hinzu kommt: Nicht selten sind die Mietverhältnisse in Wohngemeinschaften informell. Und das ermöglicht auch Mietsteigerungen oberhalb der gesetzlichen Begrenzungen.
Zwar mieten nicht nur Studierende Zimmer über die WG-Plattform – vor allem in teureren Städten sind WGs auch für Berufstätige attraktiv. Aber 58,2 Prozent der Nutzer*innen der Plattform sind Studierende, teilt WG-Gesucht mit.
Auch Christian Oberst hält das für möglich. Er ist Senior Economist für Wohnungspolitik und Immobilienökonomik beim Institut der deutschen Wirtschaft (IW) und beobachtet den studentischen Wohnungsmarkt seit Jahren. Ein „Preisaufschlag im September aufgrund besonders hoher Nachfrage“ sei „plausibel“. Zudem sei möglich, dass im September besonders viele Angebote in guter Lage geschaltet würden, die teurer sind, im Oktober dann viele günstigere in schlechteren.
Nicht nur der Semesterbeginn beeinflusst die Preise. Während Corona wurden WG-Zimmer in einigen Städten sogar günstiger als zuvor, etwa in München und Stuttgart. Das könne an dem generell hohen Preisniveau in den Städten liegen. „Hier sind WGs auch für junge Erwerbstätige, Fernpendler etc. besonders interessant“, sagt Oberst vom IW.
Dieser Text Teil unserer neuen Recherche zu studentischem Wohnen in Europa. Du studierst? Hilf’ uns bei der Recherche! Mach’ mit bei unserer Umfrage zur Wohnungssituation von Studierenden:
Während Corona blieben sie den Städten fern und im Homeoffice: Die Nachfrage sank. Diese Zeiten sind vorbei. Analysen des IW haben ergeben, dass WG-Zimmerpreise aktuell sogar schneller steigen als die kleiner Wohnungen, die den Bedürfnissen Studierender entsprechen.
Die Indizes für studentische Wohnungen und WGs wurden aus Angebotsmieten auf Immobilien-Plattformen berechnet und sind qualitätsbereinigt. Das heißt, dass mithilfe statistischer Verfahren Veränderungen des Angebots herausgerechnet wurden, um die Zahlen über die Zeit hinweg vergleichbar zu machen. Ohne Anwendung dieser statistischen Methode könnten steigende Preise zum Beispiel auch daran liegen, dass neuerdings mehr Luxuswohnungen angeboten werden.
Vor allem seit 2021 steigen WG-Preise schneller an als die Durchschnittspreise aller Angebote, die für Studierende üblicherweise in Frage kommen. „Über alle 38 untersuchten Standorte hinweg sind die Mieten qualitäts- und lagebereinigt um 5,9 Prozent gestiegen, WG-Zimmer verteuerten sich sogar um 9,4 Prozent”, schreibt das IW über die Entwicklung seit dem zweiten Halbjahr 2021 und führt die Entwicklung auf die höheren Energiekosten und die Wohnungsnot in Großstädten zurück. Letztere ermögliche es Vermieter*innen, höhere Mieten durchzusetzen. Und manche Hauptmieter*innen nutzen ihre Untermieter*innen aus.
Das könnte sich in den kommenden Monaten und Jahren weiter verstärken. Denn seit der Energiekrise konkurrieren Studierende mit mehr Leuten auf dem Wohnungsmarkt um günstigere Wohnungen, sagt IW-Analyst Oberst: „Alle gehen derzeit auf günstigere Wohnungen.“
Studierende werden es also künftig noch schwerer haben, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Wer wenig Geld hat, ist dann umso mehr auf günstigere Wohnorte angewiesen. Die Preisunterschiede zwischen den Städten sind allerdings gewaltig. Die folgende Tabelle zeigt, welche Städte sich auch ärmere Studierende noch leisten können.
Die Tabelle zeigt: Schon jetzt lässt sich die Miete nur noch in zwei der 38 untersuchten Städte von Bafög finanzieren. Im Bafög-Satz werden 360 Euro Wohnkostenpauschale berücksichtigt. An allen anderen Orten ist das Studium bereits zum Privileg geworden.
Dieser Artikel wurde als Teil des European Cities Investigative Journalism Accelerator (ECIJA) produziert. Wir sind ein Netzwerk europäischer Medien, das sich der Recherche gemeinsamer Herausforderungen europäischer Großstädte und Länder widmet. Das Projekt ist eine Fortführung der europäischen Recherche Cities for Rent und wird vom Stars4Media-Programm gefördert. Das Tagesspiegel Innovation Lab leitet dabei die Datenrecherche und –visualisierung des Netzwerks. In unserer neuen Recherche widmen wir uns dem Thema Studentenwohnen. Dies ist der zweite Teil der europäischen Investigation. Zum ersten geht es hier. Weitere Teile folgen in den nächsten Wochen.