Das österreichische Ferlach liegt malerisch im Kärntner Rosental. Vor der Stadt breiten sich die breiten grünen Auen des Flusses Drau durch das Tal, hinter ihr erheben sich majestätisch die Karawanken, ein Gebirgszug der Ostalpen. Dann beginnt schon Slowenien.
Es könnte die perfekte österreichische Alpenidylle sein. Wäre da nicht dieses Wort: Büchsenmacherstadt.
Was klingt, als würden in windschiefen Fachwerkhäusern kleine Metallschatullen in Handarbeit hergestellt, bedeutet tatsächlich: Schusswaffenproduktion. „Noch heute“, rühmt sich die Gemeinde Ferlach auf ihrer Homepage, „wird das Büchsenmacherhandwerk in Ferlach gelebt.“ Das ist maßlos untertrieben.
Denn in dieser Stadt hat einer der größten, erfolgreichsten und rücksichtslosesten Pistolenproduzenten der Welt seinen Hauptsitz: die Firma Glock.
Es ist eine Firma, um die sich Mythen ranken. Über die Bücher geschrieben, Dokumentationen gedreht und Lieder verfasst wurden. Die auf keine Anrufe und Mails reagiert, auch nicht auf die Anfrage des Tagesspiegels, und Journalisten bisweilen mit Hilfe von Sicherheitsfirmen vertreibt.
Eine Firma, deren Waffen vor allem in den USA unheimlich populär sind. Und ebenso tödlich.
„Glock war mit 445.442 Pistolen der viertgrößte Hersteller von Handfeuerwaffen“, berichtet das US-Fachmagazin „Shooting Industry“ bezüglich des Jahres 2020. Speziell bei Kleinkaliberwaffen sei ein „bemerkenswertes jährliches Wachstum erzielt“ worden.
„2021 war von einer sehr starken Nachfrage und von einer Produktion an der Kapazitätsgrenze über das gesamte Jahr geprägt“, heißt es auch in einem Lagebericht zur Konzern-Bilanz 2021, aus der die österreichische Zeitung „Kurier“ zitiert. „Besonders die Nachfrage in den USA war weiterhin sehr stark.“ Allein im Jahr 2021 erzielte Glock mit seinen Pistolen einen Umsatz von 888,8 Millionen Euro – 108 Millionen mehr als im Vorjahr.
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Der heute 93-jährige Firmengründer Gaston Glock zählt zu den reichsten Österreichern. Sein Vermögen wird in Rankings mit knapp 1 bis 1,3 Milliarden Euro beziffert.
Aber der wirtschaftliche Erfolg hat einen menschlichen Preis. Auf der Liste der verheerendsten „Mass Shootings“ der vergangenen 25 Jahre tauchen immer wieder die Waffen des Ferlacher Herstellers auf.
Red Lake Senior High School, Minnesota, 2005: 10 Tote. Virginia Tech, 2007: 32 Tote. Sandy Hook Elementary School, Connecticut, 2012: 27 Tote. Sutherland Springs, Texas, 2017: 26 Tote. Thousand Oaks, Kalifornien, 2018: 12 Tote.
Unter den Tatwaffen jeweils: eine Waffe von Glock.
Es ist kein reines US-Phänomen. Der norwegische Attentäter Andres Breivik nutzte 2011 für seinen 77-fachen Mordüberfall auf ein sozialdemokratisches Jugendcamp auf der Insel Utøya eine Glock 17.
Ebenso der Attentäter David Sonboly, der 2016 im Münchner Olympia-Einkaufszentrum neun Menschen erschoss. Das amerikanische Violence Policy Center nannte Glock-Pistolen deshalb einmal „a favorite of mass shooters“ – den Liebling der Massenmörder.
Auch Kriminelle in den USA nutzen überproportional oft Pistolen des Herstellers, wie Untersuchungen der NGO Everytown for Gun Safety zeigen. Die Organisation hat US-Großstädte nach den häufigsten Tatwaffen in deren Gebiet befragt. In 19 der 30 befragten Städte waren Pistolen von Glock die häufigste Waffe. Die Tabelle liest sich wie eine Anklage: Chattanooga: Glock. Chicago: Glock. Washington, DC: Glock. Kansas City: Glock. Miami: Glock. Philadelphia: Glock.
„Im Durchschnitt wurden mehr als 1,5-mal so viele Glocks an Tatorten sichergestellt als Schusswaffen vom zweitgrößten Hersteller“, schreibt Everytown for Gun Safety in seiner Analyse.
Wer sich, wie vor einigen Jahren die österreichische Rechercheplattform „Dossier“, einfach auf den Weg nach Ferlach macht, um das herauszufinden, stößt auf eine Mischung aus Omertà und Drohgebärden.
Gaston und Kathrin Glock und ihre Firma reagierten wie immer bei kritischen Fragen: No comment. Nicht nur das – als die Redakteurinnen und Redakteure von „Dossier“ vor Ort recherchierten, wurden sie von Security-Leuten bis in einen Supermarkt verfolgt und fotografiert, so berichteten sie es.
„Behörden erklären öffentliche Dokumente zur Geheimsache, Politiker sagen ohne Begründung vereinbarte Interviews ab, und Gemeindemitarbeiter wollen, angesprochen auf die Firma Glock, ‚nichts mehr‘ mit dem Thema zu tun haben“, schreibt „Dossier“ damals. Man lege sich nicht mit einem Waffenproduzenten an, erklärte ein ehemaliger Kärntner Lokalpolitiker den Journalisten.
Dabei waren die Fragen des Mediums durchaus berechtigt: Hatte Gaston Glock die extrem rechte FPÖ mit „zwischen 500.000 Euro und eineinhalb bis zwei Millionen“ unterstützt, wie der mittlerweile geschasste Ex-Parteichef und Ex-Vizekanzler Heinz-Christian Strache in dem berühmt gewordenen Ibiza-Video angab?
Hatte die Firma Glock FPÖ-Politiker wirklich bloß zur „Horses & Stars“-Gala des unternehmenseigenen Reitstalls geladen, mit Hollywood-Größen wie John Travolta und Chuck Norris, Essen von Alfons Schubeck und einem Auftritt von Robbie Williams? Oder erhielt Gaston Glocks zweite Ehefrau Kathrin im Gegenzug den Posten als Aufsichtsrätin der Flugbehörde Austro Control?
Wie mächtig muss ein Waffenhersteller sein, dass Politiker aus Sorge schweigen? Wie reich muss ein Mann werden, dass er sich quasi ein ganzes Tal kaufen kann? Um zu leben und zu herrschen wie ein König?
Rückblick ins Österreich der frühen 1980er Jahre. Gaston Glock, 1929 in Wien geboren, Sohn eines Eisenbahnmitarbeiters, ist damals ein mittelständischer Unternehmer, schreibt der Journalist Paul M. Barrett in seinem Buch „Glock: The Rise of America’s Gun“. Glock hat mit einer gebrauchten Stahlpresse aus der Sowjetunion begonnen, Blechteile für Türen und Fenster zu produzieren.
Später spezialisiert er sich auf Gussplastik und entwickelt für das österreichische Heer das „Feldmesser 78“: ein Messer, das für den Soldatenalltag ebenso zu gebrauchen ist wie als Kampfwaffe und Bajonett.
„Eines Tages im Februar 1980 hörte er zufällig ein Gespräch zwischen zwei Obersten auf dem Flur, das seine Fantasie beflügelte“, schreibt Barrett in seinem Buch. „Die Armee brauchte eine neue Handfeuerwaffe für Offiziere, Piloten und Fahrer, um die veraltete Walther P-38 aus dem Zweiten Weltkrieg zu ersetzen.“
Glock, so will es die Legende, lädt also hochrangige Militärs und Waffenexperten in sein Ferienhaus in Kärnten und lässt sich minutiös erklären, was eine moderne Pistole können muss.
Dann, auch das ist Teil des Mythos, stellt er zwei Büchsenmacher an und entwickelt mit ihnen im Keller seiner Plastikfabrik im Wiener Vorort Deutsch-Wagram ein Jahr lang Prototypen. Die Waffen soll Glock stets mit der linken Hand geschossen haben – um im Falle einer Explosion der Testwaffen seine stärkere rechte intakt zu halten.
Am Ende erfinden Glock, seine Büchsenmacher und die Experten des Heeres eine völlig neue Waffe: die Glock 17. Sie ist 661 Gramm leicht, besteht aus gerade mal 34 Bauteilen und ist nicht nur günstig zu produzieren, sondern kaum fehleranfällig. Mit ihr gewinnt Glock die Ausschreibung des Heeres. Dann passieren zwei Dinge.
Erstens: „Während der Produktion der Pistolen für die österreichische Armee entdeckte die Dachgesellschaft, dass sie mehr Pistolen produzieren konnte, als in Österreich verkauft werden konnten“ – so steht es in den Prozessunterlagen, als sich Gaston später von seiner ersten Frau und Mitgründerin Helga Glock scheiden lässt. Sie liegen dem Tagesspiegel vor. Also lässt Glock schon 1985 in Smyrna, Georgia, eine US-Tochtergesellschaft gründen und eine zweite Fabrik für den amerikanischen Markt bauen.
Zweitens geraten am 11. April 1986 14 FBI-Agenten bei einem Festnahmeversuch in Miami in eine blutige Schießerei mit zwei Bankräubern. Die Kriminellen, ehemalige Special-Forces-Soldaten, sind da bereits mit halbautomatischen Gewehren und Pumpguns bewaffnet, während die FBI-Beamten vor allem klassische Colts tragen, die sie nach fünf, sechs Schuss neu laden müssen. Das FBI, so beschreibt es Barrett, war „outgunned“.
In diese Lücke stößt Glock mit seiner relativ günstigen Waffe vor. Natürlich: Für die Stahl und Holz gewohnten Amerikaner ist die Glock 17, die zu einem großen Teil aus Hartplastik besteht, gewöhnungsbedürftig. Das FBI und viele Polizeibehörden sind zunächst zögerlich, zumal das Gerücht die Runde macht, die Österreicher von Glock würden ihre Waffen an den libyschen Diktator Muammar al Gaddafi und dessen Nationalgarde verkaufen.
Noch stärker ist der Mythos, dass die Glock-Waffen in Sicherheitskontrollen von Flughäfen nicht zu erkennen und damit für Flugzeugentführungen prädestiniert seien. Über diese Frage entspinnt sich im Januar 1986 eine heftige Debatte in Fachblättern und Zeitungen.
Fingierte Testläufe bestätigen den Verdacht, und kurz steht ein komplettes Verbot von Glock-Pistolen im Raum, aus dem am Ende jedoch nichts wird. Aber eines hat sich verändert: Ganz Amerika kennt jetzt die Waffe von Gaston Glock.
Buchautor Barrett schätzt, dass allein dieser Skandal Glock Bekanntheit im Wert einer Kampagne von fünf Millionen Dollar eingebracht habe. Gaston Glock und sein US-Vertriebsleiter sind entschlossen, aus diesem Geschenk ein Geschäft zu machen.
Ihr Plan: die niedrigen Produktionskosten ausschöpfen und die Waffen zu konkurrenzlos günstigen Preisen an die Police Departments quer durch die USA verkaufen. Anders gesagt: das Land mit Glocks fluten.
„Die Strategie von Glock war geradezu genial“, sagt der Waffenindustriekritiker Ryan Busse, der früher selbst in der Branche arbeitete. „Im Grunde schenkte die Firma der Polizei im ganzen Land Waffen oder verkaufte sie zu einem sehr niedrigen Preis. Denn sie wusste, dass sie damit Waffen auch kommerziell vermarkten konnte.“ Die Polizei ist für Glock vor allem ein Qualitätssiegel. Glock muss mit den Verkäufen an die Behörde keinen großen Gewinn machen. Der würde schon aus dem privaten Markt kommen.
Der Plan geht auf. In den Jahrzehnten darauf wird Glock in den USA zum Inbegriff einer Pistole, beinahe ein Synonym.
Und dann passiert etwas, das bei der verschlossenen, bodenständigen, wenn nicht sogar spießigen Firma Glock aus Ferlach niemand vermutet hätte: Firmengründer Gaston Glock verliebt sich neu, mit knapp 80 Jahren.
Hier gehen die Erzählungen wild durcheinander. Meist heißt es, Glock habe Kathrin Tschikof in einem Wartezimmer kennengelernt, bei einer Routineuntersuchung. Laut anderen Versionen der Geschichte soll Tschikof Glocks Krankenschwester gewesen sein. Wieder anderen Überlieferungen zufolge lernte Glock seine zweite Frau in einem Wirtshaus in Ferlach kennen, wo sie kellnerte.
Fakt ist: Ein irrsinniger Rosenkrieg bricht aus. Eine Reihe von Prozessen in den USA und Österreich beschäftigen die Boulevardblätter, die Firma und die Glocks. Das US-Magazin „New York“ schreibt 2014 von einem „verrückten Rechtsstreit, der die Waffen-Dynastie Glock erschüttert“. Streitwert: 500 Millionen Dollar.
Der eigentlich als zurückhaltend geltende Glock drängt seine erste Frau Helga Glock, mit der er mehr als 50 Jahre verheiratet gewesen war, und seine drei Kinder aus der Firma. Weil ein erheblicher Teil des Reichtums der Familie im Werk in Smyrna entsteht, klagt Helga Glock in Georgia die Offenlegung der amerikanischen Geschäftszahlen ein.
Diesen Prozess gewinnt Helga Glock – den großen Prozess um die Firma in Klagenfurt aber verliert sie 2018. „Die Ex-Frau des bekannten Kärntner Waffenproduzenten Gaston Glock muss sich nolens volens aus der gemeinsamen Firma drängen lassen”, wie der Wiener Standart damals nüchtern feststellte.
Inzwischen stellt sich aber die Frage, welchen Anteil Gaston Glock überhaupt noch an dem Geschäft hat. Längst hat Kathrin Glock, Gastons zweite Frau, die Führung der Firma übernommen. Sie ist das Gesicht von Glock in den US-Waffenkatalogen. Sie nimmt die Menschen auf Instagram mit auf ihre Reisen. Sie vertritt das Unternehmen vor dem Ibiza-Untersuchungsausschuss. Sie besucht das Jahresmeeting der NRA in Indianapolis.
Am 19. Juli 2023 wird Gaston Glock 94 Jahre alt. Die Öffentlichkeit hat ihn seit Jahren nicht gesehen. Die immer selben Bilder, die Kathrin Glock mit ihm postet, sind alt.
Schon 2008, spekuliert die österreichische Presse, soll Gaston Glock einen Schlaganfall erlitten haben. Seit Dezember 2021 ist der ehemalige Springreiter David Tschikof alleinvertretungsberechtigter Geschäftsführer der Gaston Glock GmbH. Er ist der Bruder von Kathrin Glock. Das Imperium hat eine neue Königin.