August 2010. Michael Lüke und Thomas Ortmeier, Inhaber des Waffenproduzenten SIG Sauer, sitzen im ehemaligen Ausfluglokal Bisping-Waldesruh am Rande von Emsdetten. Das Ambiente ist gutbürgerlich: Feuer im Kamin, Geweihe an den Wänden, gebrannte Steinfliesen auf dem Boden. Über der Eingangstür des Hauses steht: Pax Intrantibus, Salus Exeuntibus – Friede denen, die eintreten, Sicherheit denen, die herauskommen.
Das Thema, das die beiden Chefs der nach ihnen benannten L&O-Holding an diesem Tag mit der „Emsdettener Volkszeitung“ erklären wollen, ist für die Region brisant. In der ausgedienten Gaststätte soll zu diesem Zeitpunkt eine „neue Firmenzentrale mit einem Schießstand“ entstehen, wie die Zeitung schreibt. Die Menschen in Emsdetten sind besorgt: Keine vier Jahre zuvor ist ein 18-Jähriger schwer bewaffnet in die örtliche Geschwister-Scholl-Realschule eingedrungen und hat sieben Menschen verletzt, ehe er sich selbst erschoss.
Ortmeier, weißes Hemd, dunkler Anzug, und Lüke, blaues Polohemd, blicken selbstbewusst lächelnd in die Kamera, das Foto erscheint später zusammen mit dem Artikel.
In dem Interview – einem ihrer wenigen – versuchen sie zu beruhigen: „Nichts wird in Deutschland strenger kontrolliert als der Verkauf von Waffen“, sagt Ortmeier.
„Ich hatte in Zeiten der rot-grünen Bundesregierung viel mit Joschka Fischer zu tun“, fügt Lüke hinzu. Er meint den ehemaligen Außenminister von den Grünen. „Sie glauben doch nicht, dass der leichtfertig Waffenverkäufe durchgewunken hätte, die nicht hundertprozentig in Ordnung sind.“ Ortmeier: „Die Ausfuhr jeder einzelnen Waffe muss von der Bundesregierung genehmigt werden.“
Spricht man mit Holger Rothbauer über diesen Auftritt, lächelt er still. Sein Blick wandert durch sein Tübinger Büro, er denkt kurz nach, wägt seine Worte ab. „Es dürfte Lüke und Ortmeier damals vollkommen klar gewesen sein, dass das Unsinn ist“, sagt er schließlich.
Rothbauer, zerzaustes graues Haar, Schnurrbart, wache Augen hinter der kleinen Brille, ist einer der profiliertesten Menschenrechtsanwälte Deutschlands. 2022 wurde ihm der renommierte Aachener Friedenspreis verliehen.
Rothbauer leiste mit seiner „systematischen juristischen Aufarbeitung einen wichtigen Beitrag dazu, dass vermeintlich unangreifbare Personen aus Industrie und Politik persönliche Konsequenzen fürchten müssen“, erklärte die Jury.
Er selbst sagt, er wolle „den Opfern illegaler Waffenexporte eine Stimme geben“. Und den Tätern ein Gesicht. Tätern wie Michael Lüke und Thomas Ortmeier.
In einem langen Gerichtsverfahren konnte Rothbauer 2019 beweisen, dass der von Lüke und Ortmeier geführte Konzern wissentlich und unter Umgehung deutschen Rechts zehntausende Pistolen in das Bürgerkriegsland Kolumbien geliefert hatte.
Es handelte sich um sogenannte Kleinwaffen: Pistolen, Maschinenpistolen, Sturmgewehre. Der Name „Kleinwaffe“ ist allerdings irreführend. Sie mögen zwar von geringem Format sein – doch ihre Wirkung ist teils verheerend. Bis zu 90 Prozent aller Kriegs- und Konfliktopfer weltweit werden laut einer Studie des UN-Kinderhilfswerks UNICEF durch Kleinwaffen getötet. Allein in den Jahren 2002 bis 2012 waren das drei Millionen Menschen, 80 Prozent davon Frauen und Kinder. Und es werden immer mehr.
Zugespitzt könnte man sagen: Kleinwaffen sind die wahren Massenvernichtungswaffen unserer Zeit.
Von 2009 bis 2011, stellte das Kieler Landgericht im April 2019 fest, hatte SIG Sauer aus seinem Werk in Eckernförde rund 47.000 Pistolen vom Typ SP 2022 an seine Schwesterfirma in die USA geliefert: die SIG Sauer Inc. Laut Ausfuhrgenehmigung der zuständigen Bundesbehörde sollen sie für die US-Polizei bestimmt gewesen sein. Ein Täuschungsmanöver.
Investigative Recherchen sind aufwendig. Wir investieren in Qualitätsjournalismus. Unsere besten Recherchen lesen Sie mit Tagesspiegel Plus. Das können Sie einen Monat lang kostenfrei ausprobieren. Unsere Recherchen direkt aufs Smartphone gibt’s in der Tagesspiegel-App: Hier gratis herunterladen.
Wir investieren in Qualitätsjournalismus und bauen unsere Berichterstattung aus. Unsere besten Artikel lesen Sie mit dem günstigen Abo für Tagesspiegel Plus – das Sie einen Monat lang kostenfrei ausprobieren können.
Rund 38.000 Pistolen wurden aus den USA direkt nach Kolumbien exportiert. „Die wurden noch nicht einmal ausgepackt, sondern einfach nur umetikettiert und weitergeschickt“, sagt Rothbauer. Empfänger: die kolumbianische Nationalpolizei.
Genehmigt war nachweislich aber nur die Ausfuhr in die USA. Denn die Menschenrechtslage in Kolumbien wurde zu diesem Zeitpunkt vom Auswärtigen Amt als ernst eingestuft. Das Land litt unter Bandenkriminalität, Armut und Polizeigewalt, es gab regelmäßig gewalttätige Proteste gegen die Regierung.
Die „Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!“, die größte zivilgesellschaftliche Vereinigung Deutschlands auf diesem Feld, die im Strafverfahren als Anzeigeerstatterin auftrat, kritisierte, friedliche Proteste in Kolumbien würden „von der Polizei niedergeschossen“ – womöglich auch mit Waffen aus Deutschland. Das Kinderhilfswerk Terre des Hommes legte damals zudem Hinweise vor, die deutschen Pistolen in Kolumbien könnten auch von Drogenbanden, Paramilitärs und Guerillagruppen bei Verbrechen eingesetzt worden sein.
Nach beinahe zehn Prozessjahren mussten drei Tochtergesellschaften der L&O Holding 2019 insgesamt 11,1 Millionen Euro zahlen. Eine Rekordsumme. Michael Lüke, Ron Cohen, der Geschäftsführer der amerikanischen Tochtergesellschaft SIG Sauer Inc., sowie ein dritter Manager wurden zu Freiheitsstrafen auf Bewährung verurteilt.
Der Bundesgerichtshof bestätigte das Urteil zwei Jahre später. Die „Süddeutsche Zeitung“ nannte den „Großwildjäger, Waffenliebhaber und Unternehmer“ Lüke daraufhin „Lord of War“.
„Das Bemerkenswerte daran ist, dass L&O ähnlich bestraft wurde wie die organisierte Kriminalität“, sagt Holger Rothbauer. „Sie wurden sozusagen trockengelegt.“
Es ist nicht der einzige solche Fall in Deutschland. Auch der Waffenhersteller Heckler & Koch aus Oberndorf am Neckar musste sich verantworten – wegen illegalen Waffenverkaufs nach Mexiko.
Ein früherer Vertriebsleiter des Konzerns sowie eine Sachbearbeiterin wurden im Februar 2019 vom Landgericht Stuttgart „wegen bandenmäßiger Ausfuhr“ von 4219 G36-Sturmgewehren, wie sie auch die Bundeswehr nutzt, zwei Maschinenpistolen und 1759 Magazinen zu Freiheitsstrafen verurteilt. Drei weitere Angeklagte wurden mangels Beweisen freigesprochen.
Das Landgericht sah es als erwiesen an, dass die Genehmigungen für den Export nach Mexiko erschlichen worden waren. Heckler & Koch hatte angegeben, nur in friedliche Regionen Mexikos zu exportieren, obwohl die Waffen von Anfang an für von Konflikten gebeutelte Regionen wie Jalisco, Chiapas, Chihuahua und Guerrero gedacht waren. Oder in den Worten des Gerichts: Den deutschen Behörden seien „als unrichtig erkannte Endverbleibserklärungen vorgelegt“ worden.
In jenem Prozess wurde allerdings auch deutlich, dass das Bundeswirtschaftsministerium seine Kontrollfunktion bei der Überprüfung des Waffenexports nur unzureichend bis widerwillig erfüllte. Der damals zuständige Referatsleiter erklärte, sein Haus heiße ja „Ministerium für Wirtschaft“ und habe „ein Interesse daran, dass dieser renommierte Hersteller […] wirtschaftlich überleben kann“.
Eine Haltung, die teilweise bis heute vorherrscht – und offenbar weiterhin von der Branche ausgenutzt wird.
Denn öffentliche und interne Dokumente, Mails, Fotos und Videos, die dem Tagesspiegel von verschiedenen Aktivistengruppen in Deutschland und den USA zur Verfügung gestellt wurden, legen nahe, dass der Re-Export von Waffen über die USA zumindest eine Zeitlang gängige Geschäftspraxis einiger deutscher Waffenproduzenten war.
Der Verdacht: Die Unternehmen könnten die lasche Exportkontrolle in den Vereinigten Staaten erneut dazu genutzt haben, um lukrative Deals zu tätigen, die nach deutschem Recht illegal sind. Vorbei an den staatlichen Kontrollmechanismen.
Wieder im Mittelpunkt: Lieferungen von SIG Sauer.
Noch während das erste Verfahren gegen das Unternehmen lief, so scheint es, könnte die L&O Holding über ihre Tochterfirma mit Sitz in New Hampshire erneut deutsche Waffen in ausgewiesene Krisenregionen verschoben haben. Dieses Mal nach Mexiko, Kolumbien und Nicaragua.
Für diese Länder lagen nach dem deutschen Außenwirtschaftsgesetz zu jener Zeit keine Ausfuhrgenehmigung für Rüstungsgüter vor. Dies bestätigte die Bundesregierung 2020 auf eine schriftliche Anfrage der grünen Bundestagsabgeordneten Katja Keul.
Der Startschuss für SIG Sauers lukratives Geschäft fällt irgendwann um 2011. Das Unternehmen ist damals zur richtigen Zeit am richtigen Ort – und nutzt die Probleme eines Konkurrenten.
Denn eigentlich kümmert sich ein anderer deutscher Waffenhersteller um das Mexiko-Geschäft: Heckler & Koch. Die mexikanische Polizei und das Militär befinden sich in jenen Jahren mitten in einer Umstellung, sie brauchen dringend neue Waffen. Heckler & Koch will dabei helfen. Verträge werden unterschrieben, Details geklärt. Das Unternehmen soll mindestens 200.000 Schusswaffen, unter anderem Sturmgewehre des Typs G36, in das nordamerikanische Land liefern und eine Lizenzproduktion vor Ort aufbauen.
Kaum ist die Tinte auf den Verträgen trocken, kommt es jedoch zu Problemen mit den deutschen Exportgenehmigungen. Die Sache landet, auch auf Betreiben eines Whistleblowers, vor dem Landgericht Stuttgart, wo sie über zwölf Jahre lang verhandelt werden wird.
Das heißt aber auch: Die Firma aus Oberndorf am Neckar ist raus aus dem Mexiko-Deal. Für SIG Sauer ist das ein Glücksfall. Ab 2011 versucht das Unternehmen, vor allem in Form seiner US-Tochter, die Lücke zu füllen und dringt auf den mexikanischen Markt vor.
Das zahlt sich spätestens 2015 aus. Laut Dokumenten des US-Außenministeriums, die der Tagesspiegel ausgewertet hat, wird SIG Sauer Inc. die Genehmigung erteilt, Waffen im Wert von 266 Millionen Dollar nach Mexiko zu liefern. Zusätzlich darf das Unternehmen eine Lizenzproduktion im Land aufbauen. Gegenwert: 121 Millionen Dollar. Viel Geld, auch für den in Emsdetten ansässigen Mutterkonzern. Ein guter Deal.
Und einer, der nach US-Recht völlig legal ist. Die Exporte waren von den zuständigen Stellen explizit genehmigt worden.
Allerdings nicht von der deutschen Bundesregierung. Diese hatte zudem weder eine Lizenzproduktion in Mexiko erlaubt noch in den USA. Und schon gar nicht mit dem Ziel des direkten Weitertransports. Sondern ausschließlich Lieferungen für den sogenannten Endverbleib in den Vereinigten Staaten. Demnach wäre der Re-Export ein Verstoß gegen das deutsche Außenhandelsgesetz.
Wie konnte es zu den Lieferungen nach Mexiko kommen? Zu den Zielorten gehörten auch Bundesstaaten, die laut Lageberichten des Auswärtigen Amtes als besonders schwierig gelten, in denen also die Achtung der Menschenrechte fraglich und die Bandenkriminalität hoch ist – und damit die Wahrscheinlichkeit, dass die Waffen in falsche Hände geraten.
Im Grunde gibt es zwei Möglichkeiten. Es ist nicht auszuschließen, dass SIG Sauer zu jener Zeit bereits in der Lage war, die Waffen über seine US-Tochterfirma komplett in New Hampshire zu produzieren, ohne auf Technik und Teile aus Deutschland zurückzugreifen.
Experten halten dies allerdings für unwahrscheinlich. Zumal es sich auch dabei um einen Verstoß gegen geltendes Recht handeln könnte, denn die Technologie, das Wissen und die Patente könnten dennoch aus Deutschland stammen – und wären damit exportgenehmigungspflichtig.
Die zweite Möglichkeit: Lüke und Ortmeier könnten erneut wissentlich versucht haben, über die Tochterfirma SIG Sauer Inc. in den USA Waffen an deutschen Gesetzen vorbei in Drittländer zu exportieren, an die nach deutschem Recht keine Waffen geliefert werden dürfen.
Beweisen lassen sich beide Vermutungen nicht – zumindest nicht rechtssicher. Seit 2020 läuft beim Landgericht Kiel ein Prozess, der unter anderem die mutmaßlich erneuten Re-Exporte von SIG-Sauer-Produkten in Krisengebiete betrifft. Ein Urteil gibt es noch nicht, aktuell ruht der Fall. Auf Anfrage des Tagesspiegels wollten sich weder Thomas Lüke noch Michael Ortmeier zu den Vorgängen äußern.
Fakt ist: In Mexiko, aber auch in Kolumbien und Nicaragua, sind in jenen Jahren immer wieder Waffen aufgetaucht, die aus Deutschland zu kommen scheinen.
In Fotos und Videos aus diesen Ländern, deren Echtheit mehrfach geprüft wurde, sind ein knappes Dutzend Pistolen zu sehen, die unmissverständliche Inschriften tragen: „Made in Germany“ und „Beschussamt Kiel“. In dessen Zuständigkeitsbereich lag bis 2020 die SIG-Sauer-Fabrik in Eckernförde.
Dass die Waffen in den Fotos und Videos tatsächlich aus Exportbeständen der SIG Sauer Inc. stammen, lässt sich zwar nicht beweisen. Daten des US-Handelsministeriums, die dem Tagesspiegel vorliegen, listen jedoch Import- und Exportgeschäfte nach Waffenart und Bundesstaat auf, unter anderem Waffenexporte aus dem Bundesstaat New Hampshire.
Konkrete Markennamen werden darin nicht genannt. Aber SIG Sauer Inc. ist der einzige Hersteller in New Hampshire, der Waffen importiert und exportiert.
Demnach wurden von 2010 bis 2019 Waffen und Waffenteile im Wert von rund 135 Millionen Dollar aus Deutschland geliefert. Im gleichen Zeitraum betrug das Volumen des Exports von Waffen und Waffenteilen von New Hampshire nach Mexiko insgesamt rund 53 Millionen Dollar.
Rechtsanwalt Holger Rothbauer kennt den Fall gut. Im derzeit in Kiel laufenden Verfahren vertritt er wieder die Klägerseite. Dazu äußern möchte er sich nicht.
Denn Rothbauer weiß, dass seine Prozesse die Waffengeschäfte zwar erschweren. Aber Konzerne wie die L&O Holding haben längst einen anderen Weg gefunden, Schusswaffen in Krisengebiete zu verkaufen.
Über den ersten, gewonnenen Prozess gegen SIG Sauer sagt Rothbauer: „Um ehrlich zu sein, schaue ich auf diesen Sieg mit einem weinenden Auge.“
Unter anderem als Reaktion auf diesen Prozess und die 11-Millionen-Strafe hat sich SIG Sauer 2020 nämlich beinahe komplett aus Deutschland zurückgezogen und seine Geschäfte nach New Hampshire verlegt. Zurückgeblieben ist nur das unternehmerische Gefäß: die L&O SIG Sauer Verwaltungs-GmbH in Emsdetten. Rein rechtlich gilt SIG Sauer heute als US-Unternehmen.
„Seit einem Präsidenten Donald Trump können sie von dort aus in alle Welt liefern. Und zwar so richtig“, sagt Rothbauer.
Wie das aussehen könnte, zeigen dem Tagesspiegel vorliegende Dokumente der US-Waffenbehörde Bureau of Alcohol, Tobacco, Firearms and Explosives, kurz: ATF. Demnach ist SIG Sauer bereits seit 2018 der größte Kleinwaffenexporteur der USA.
Auch weil das Unternehmen Waffen in Staaten geliefert hat, die von deutschen Behörden als unsicher eingestuft werden – Länder wie Indonesien, die Philippinen und Saudi-Arabien. Ohne sich um deutsche Gesetze kümmern zu müssen.