Am Morgen des 8. April 2021 tritt Joe Biden vor die Presse. Die Waffengewalt in diesem Land, sagt der US-Präsident, sei „an international embarrassment“, eine internationale Peinlichkeit, ein Schandfleck für die USA. Und der Demokrat wird noch deutlicher: Eine „Epidemie der Waffengewalt“ suche das Land heim.
2021 starben im Schnitt 57 US-Bürger durch Waffengewalt – pro Tag. Damit stellte das Jahr den Höhepunkt einer traurigen Entwicklung dar, aber noch lange nicht den Schlusspunkt. Laut der NGO Gun Violence Archive belief sich die Zahl der durch Schusswaffen getöteten Menschen in den USA allein in den Jahren 2016 bis 2022 auf 122.100. Hinzu kamen im selben Zeitraum noch einmal knapp 240.000 Verletzte.
Bei Kindern sind Schusswaffen seit dem Jahr 2020 sogar die Todesursache Nummer eins – noch vor Autounfällen und Krankheiten.
Allein 2021 starben in den USA 4733 Kinder und Jugendliche an den Folgen von Waffengewalt.
Zum kaum ermesslichen Schmerz der Angehörigen kommt ein gewaltiger sozialer und finanzieller Schaden hinzu. Die gemeinnützige Organisation Everytown for Gun Safety, gegründet vom Unternehmer und Politiker Michael Bloomberg, hat einmal berechnet, dass die Kosten der Schusswaffengewalt in den USA jährlich 557 Milliarden US-Dollar betragen. Das sind etwa zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Waffen haben in den USA eine lange Tradition, nicht nur weil sich das Land seine Unabhängigkeit erst mit Gewalt erkämpfen musste. Die wenigsten Menschen in Deutschland kennen wohl auch nur einen Artikel der amerikanischen Verfassung im Wortlaut.
Vom berüchtigten Second Amendment aber, dem zweiten Verfassungszusatz, haben die meisten gehört. James Madison, einer der Gründer der USA, schrieb ihn damals in die Verfassung, der Kongress ratifizierte ihn nach einigen Revisionen im Jahr 1791. Unter anderem heißt es darin: „Das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und tragen, darf nicht beeinträchtigt werden.“
Doch was in dem damals wenig bevölkerten Land, dessen Einwohner vor allem von der Jagd lebten, nachvollziehbar war, muss für eine moderne Gesellschaft nicht mehr unbedingt gelten. In Deutschland etwa wurde schon 1928 ein Gesetz erlassen, das den Erwerb und Bau von Waffen regulierte, bis dahin war es nur durch Polizeiverordnungen und regionale Verbotszonen beschränkt gewesen. Madison jedenfalls konnte sich der Auswüchse, die sein Verfassungszusatz einst hervorbringen würde, kaum bewusst gewesen sein.
Schätzungen des Genfer Forschungsprojekts Small Arms Survey zufolge besaßen die Menschen in den USA im Jahr 2018 393,3 Millionen Waffen. Da jedoch allein 2020 mehr als 20 Millionen Stück verkauft wurden, dürfte die Zahl heute noch um einiges höher liegen. Hochgerechnet bedeutet das, dass auf 100 Amerikaner:innen mehr als 120 Schusswaffen kommen. Anders gesagt: Jedes amerikanische Kind, jede Frau und jeder Mann könnte eine Schusswaffe besitzen, und es würden trotzdem noch mehr als 50 Millionen Pistolen und Gewehre übrig bleiben.
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Dabei verteilen sich die Waffen in Wirklichkeit sehr ungleich über das Land. Je nach Umfrage besitzen zwischen 30 und 40 Prozent der Amerikaner:innen eine eigene Schusswaffe, zwischen 40 und 45 Prozent leben in einem Haushalt, in dem es mindestens eine Waffe gibt. „Es handelt sich also um eine sehr enthusiastische Minderheit in der Bevölkerung. Und in den Haushalten, in denen es Waffen gibt, ist es sehr üblich, dass es viele Waffen gibt – etwa zehn, zwölf, 15“ erklärt Paul Barrett, Autor des Buchs „Glock: The Rise of America’s Gun“.
Betrachtet man die Gesamtbevölkerung der USA, ist der Waffenbesitz prozentual zur Population seit einigen Jahren zwar überraschenderweise leicht rückläufig. Aber: Er verlagert sich. Früher häuften sich Waffen auf dem Land, heute findet man sie verstärkt in den Städten, unter anderem weil große Hersteller wie Glock in den 90er Jahren viele Waffen günstig an Police Departments verkauften – die später bei Gangs und Verbrechern landeten.
Dabei sind illegale Waffen statistisch gesehen der kleinere Teil des Problems. Betrachtet man die „Mass Shootings“ der vergangenen Jahre, fällt auf, dass der Großteil der dabei benutzten Waffen ganz legal im Waffenladen um die Ecke gekauft wurde.
In einer Ende April publizierten Umfrage des – wohlgemerkt erzkonservativen – Fernsehsenders Fox News, befürworten 87 Prozent der Befragten eine Strafregisterprüfung bei allen Waffenkäufer. 81 Prozent wollen das Mindestalter für Käufer auf 21 Jahre heben, 80 Prozent zudem eine psychologische Überprüfung.
Wie kann es also sein, dass in einer Demokratie eine Minderheit den Ton in einer so wichtigen Frage wie dem Waffenbesitzrecht angibt?”
Zum einen bilden die Waffenbefürworter im Gegensatz zu den Waffengegnern eine einheitliche Front. Die größte Rolle spielt dabei die 1871 gegründete National Rifle Association, die NRA. Bis in die 1970er Jahre, sagt Paul Barrett, war sie eine „sehr schläfrige, nicht besonders potente Interessengruppe, die sich als Vertreter von Jägern und Naturliebhabern verstand und sich darauf spezialisierte, Teenager im Umgang mit Gewehren zu schulen.“
In den 80er Jahren fing die NRA jedoch an, sich stark zu politisieren und gegen jede noch so marginale Beschränkung des Waffenrechts rechtlich und politisch vorzugehen. Die Kampagnen der NRA gingen auf. Heute hat die Organisation laut eigenen Angaben mehr als fünf Millionen Mitglieder.
Der Autor Matthew Lacombe beschreibt sie in seinem Buch „Firepower: How the NRA Turned Gun Owners into a Political Force“ als „unabhängige, patriotische, freiheitsliebende Verteidiger der amerikanischen Tradition“. Sie versammeln sich zudem in weiteren Lobbygruppen wie den Gun Owners of America oder der Delta Defense LLC.
So hat sich der waffenaffine Teil der Bevölkerung in einen mächtigen politischen Apparat verwandelt, an dem vor allem die Republikaner nur schwer vorbeikommen.
Das liegt auch daran, dass die Waffenlobby für die Hersteller eine wichtige Rolle einnimmt: die des bad cop. Nach dem Anschlag auf den Schwulenclub „Pulse“ in Orlando, Florida, im Jahr 2016 beschrieb das Magazin „Slate“ die Tatsache, dass die NRA die Wut von Waffengegnern abbekomme, als zentrale Funktion der Lobbyorganisation. Diese Reaktion, schreibt der Journalist Mark Joseph Stern in dem Artikel, sei „genau das, was die NRA will.
Schließlich dient die Gruppe jetzt zum großen Teil dazu, die öffentliche Kritik an der amerikanischen Epidemie der Waffengewalt aufzufangen und Schläge einzustecken, die sonst die Waffenhersteller selbst treffen würden – um dann von diesen Herstellern Geld für die Mühe zu kassieren.“
Tatsächlich haben die Produzenten großes Interesse daran, dass die NRA diese Rolle übernimmt, denn jede Verschärfung des Waffenrechts bedeutet für sie, dass sie weniger Waffen verkaufen. Jede Rücknahme von Backgroundchecks und anderen Sicherheitsmaßnahmen hingegen erweitert den Markt.
Im Schnitt werden in den USA pro Jahr rund zehn Millionen Pistolen, Gewehre, Schrotflinten und Revolver produziert. Um diese zu verkaufen, werden die Werbekampagnen der Hersteller zunehmend schrill und schamlos.
Während früher vor allem der praktische Nutzen für die Jagd oder Optik und Qualität des Gewehrs im Vordergrund standen, Firmen wie Ruger ihre Waffen sogar für „verantwortungsbewusste Bürger“ bewarben, zeigen Plakaten heute Kriegsszenen.
Bushmaster, der Hersteller des AR-15, das 2012 der Amokläufer des Sandy-Hook-Grundschulmassakers verwendete, nutzt den Slogan „Consider your man card reissued“. Auf Deutsch: „Hiermit erhältst du deine Männlichkeit zurück.“
Der Produzent Daniel Defense, dessen AR-15 ein Attentäter 2022 an einer Grundschule im texanischen Uvalde einsetzte, ermuntert: „Use what they use“. Wobei mit „they“ das US-Militär gemeint ist.
Auch der Produzent SIG Sauer setzt auf militärisches Setting beim Bewerben seines AR-15 namens MCX Virtus: fünf Soldaten in einem zerschossenen Haus, offensichtlich in einem Kriegsgebiet. Dabei richtet sich die Werbung an Zivilisten. Andere Firmen nennen ihre Gewehre „Urban Super Sniper“ oder „Ultimate Arms Warmonger“.
Der Grund dafür ist einfach: Die Waffenindustrie hat, so seltsam das zunächst klingt, Absatzprobleme. Weil weniger Menschen auf die Jagd gehen, müssen sie nach neuen Käuferschichten suchen.
„Die Zahl der Haushalte mit Schusswaffen ist in den letzten 30 Jahren zurückgegangen, also hat die Waffenindustrie nach neuen Märkten gesucht“, erklärt John Lindsay-Poland, der sich seit mehr als zehn Jahren mit den Strategien des US-Markts und den Exporten nach Lateinamerika beschäftigt. „Also suchen die Waffenhersteller nach Märkten bei Frauen, bei Menschen, die viele Waffen kaufen, und bei Menschen, die militarisierte Waffen wollen – und sie suchen nach Exportmöglichkeiten“, sagt der Waffenexperte.
Auf der größten Waffenmesse der USA, der Shot Show in Las Vegas, stellte die Firma WEE1 aus Illinois im Februar 2022 ein Gewehr namens JR-15 vor. Es ist eine kleine Version des berüchtigten AR-15, eines halbautomatischen Maschinengewehrs, das in den USA millionenfach im Umlauf ist und bei vielen Mass Shootings der vergangenen Jahre zu den Tatwaffen zählte.
Als Motivation für die Erfindung des JR-15 schreibt WEE1: „Unser Ziel war es, eine Waffe herzustellen, die nicht nur die richtige Größe hat und sicher ist, sondern auch genauso aussieht, sich so anfühlt und so funktioniert wie die von Mama und Papa.“ Es ist eine echte Waffe. In Kindergröße.
Wie also lässt sich der Teufelskreis durchbrechen? Als zumindest teilweise effektiv haben sich NGOs und Bürgerinitiativen erwiesen, die mit Studien und Kampagnen auf das außer Kontrolle geratene System aufmerksam machen. Strengere Waffengesetze scheitern jedoch regelmäßig am Widerstand der Republikaner, die ihre Wählerschaft in Pro-Waffen-Kreisen nicht verlieren wollen.
Einer, der der Branche den Rücken gekehrt hat, ist Ryan Busse. Nach dem Massaker an der Sandy Hook Elementary School im Jahr 2012 kündigte er seinen Job als Vizedirektor für Waffenverkäufe bei Kimber America, einem mittelständischen Hersteller aus Alabama, der nach eigenen Angaben der weltgrößte Produzent einer vor allem in den USA legendären Pistole namens M1911 ist. „Ich wollte kein Teil mehr von etwas sein, das Amerika zu zerstören droht“, sagt Busse.
Geboren auf einer Farm im ländlichen Nordwesten von Kansas, schoss Busse schon als Jugendlicher mit einem Gewehr auf Hasen und Blechdosen. Sein Vater lehrte ihn das Jagen, aber auch den verantwortlichen und sorgfältigen Umgang mit Waffen, sagt Busse – Werte, die er heute in der Branche vermisst. Seit er aus dem Geschäft ausgestiegen ist, wirbt er für „common sense“: gesunden Menschenverstand.
Als leitender Berater einer waffenkritischen NGO spricht und schreibt Busse gegen den Exzess einer Industrie an, die er lange geliebt und in der er gut verdient hat. In seinem Buch „Gunfight: My Battle Against the Industry that Radicalized America“ beschreibt er, wie die Wahl von Barack Obama 2008 die Waffenverkäufe im ganzen Land in die Höhe schnellen ließ, befeuert von Fake News, Verschwörungstheorien und Hetze gegen den ersten schwarzen US-Präsidenten.
Das Kapitel trägt den Titel „Obama: The Best Gun Salesman in America“. Busse sagt: Dass das Thema Waffenbesitz die Gesellschaft derart spaltet, ist von der Industrie so gewollt. Denn in Wahrheit sei natürlich nicht Obama der beste Waffenverkäufer Amerikas – sondern die Angst.
So hat es die Industrie geschafft, dass ein entscheidender Teil der US-Bevölkerung alle Bemühungen, das Waffenrecht auch nur moderat zu reformieren, als Angriff auf die Verfassung wahrnimmt. Selbst der Vorschlag, den freien Verkauf von AR-15-Sturmgewehren an unter 21-Jährige zu verbieten, scheiterte.
„Waffen sind das Totem rechter Kulturkämpfer – und dagegen ist mit Vernunft nur schwer anzukommen“, sagt Busse. Für seinen Seitenwechsel hat er auch persönlich einen hohen Preis bezahlt. Ehemalige Kollegen distanzierten sich. Er erhielt Drohungen. Ex-Präsident Donald Trump nannte ihn öffentlich einen „nützlichen Idioten“.
Ob er eine konkrete Lösung für das Problem sehe? Angesichts der vielen Waffen im Land sehe es derzeit schlecht aus, sagt Busse. Aber es sei wie bei Verkehrsunfällen: eine Garantie für Sicherheit könne niemand abgeben. Das entlaste jedoch nicht von der Verantwortung, für Verbesserungen zu kämpfen: „Es wurden ja auch mal Sitzgurte eingeführt.“
Der Weg dahin scheint für die USA weiter unklar – obwohl Joe Biden seine Rede am 8. April 2021 mit einer Kampfansage schloss. „Genug der Gebete“, sagte der Präsident, gerichtet an die Republikaner und die Waffenlobby: „Es ist Zeit für Taten.“ Passiert ist seitdem nichts.