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Verlieren wir die Kontrolle über die Epidemie?

Was die steigenden Positivraten bedeuten

Mehr Tests = mehr Fälle? Das behaupten viele „Coronaskeptiker“. Das ist jedoch irreführend. Die sogenannte Testpositivrate liefert Anhaltspunkte für den Erfolg von Teststrategien – und ihre Grenzen. In Deutschland hat sie einen kritischen Wert überschritten.

Deutschland ist im „Lockdown Light“. Er soll die Verbreitung des Coronavirus verlangsamen und ermöglichen, dass Weihnachten alle nach Hause fahren können. Ob das klappt, hängt nicht nur von der Zahl der gemeldeten Neuinfektionen ab, sondern womöglich auch von einer anderen Kennzahl: der „Testpositivrate“. Sie gibt an, wie hoch der Anteil von Tests mit positivem Ergebnis an allen Tests ist, die aus dem Labor zurückkommen. In Deutschland ist sie im vergangenen Monat deutlich gestiegen: von 1,7 auf 7,26 Prozent. Das heißt: Anfang Oktober waren nicht einmal zwei von 100 Getesteten Corona-positiv. Jetzt sind es mehr als sieben.

Laut einer Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sollte die Positivrate höchstens fünf Prozent betragen. Danach steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Situation außer Kontrolle gerät.

Warum ist die hohe Positivrate ein Problem?

Warum ist es ein Problem, wenn der Anteil positiver Tests steigt? Tatsächlich kann eine hohe Positivrate unterschiedliche Gründe haben. Und sie alle können ein Problem darstellen.

Erstens ist die Positivrate ein Indikator, ob genug getestet wird. Die Faustregel: Testet ein Land genug, ist die Positivrate niedrig. Dann gehen Expert*innen auch davon aus, dass die Zahlen ein einigermaßen realistisches Bild vom Infektionsgeschehen geben. Das heißt zwar nicht, dass alle Infizierten getestet werden, da es die Dunkelziffer an unentdeckten Infektionen gibt. Aber man hat die Chance, mehr Fälle zu erwischen, wenn man genug testet, auch Fälle ohne Symptome.

Ist die Testpositivrate hingegen hoch, heißt das oft, dass nicht genug Tests stattfinden, um einen Überblick über den Stand der Pandemie zu bekommen. Dann geht man von einer noch viel höheren Dunkelziffer aus, also von vielen unentdeckten Infektionen. Denn die Testpositivrate kann auch etwas darüber sagen, wie getestet wird. Rafael Mikolajczyk ist Professor für Epidemiologie an der Universität Halle-Wittenberg und erklärt es genauer: „Testet man ausschließlich Personen, die Kontakt zu Infizierten hatten, geht die Testpositivrate hoch“ erklärt Rafael Mikolajczyk. „Werden umgekehrt präventive Tests ohne Hinweise auf eine Infektion durchgeführt - etwa in Altersheimen und bei Krankenhauspersonal -, geht sie runter.“

Wenn die Positivrate von einem bisher niedrigen Wert immer weiter ansteigt, kann das außerdem ein Indiz dafür sein, dass das Land mit dem Testen zeitlich nicht mehr hinterherkommt, es also zu viel Abstand zwischen Testbedarf und tatsächlichen Tests gibt. Wenn die Neuinfektionen steigen, die Testkapazitäten aber nicht schnell genug mitwachsen, kommen alle drei Probleme oft zusammen: Zu wenige verfügbare Tests, zu lange Wartezeiten und Beschränkungen der Tests auf Menschen mit eindeutigen Symptomen. Die WHO empfiehlt, Kontaktbeschränkungen erst dann wieder zu lockern, wenn die Rate zwei Wochen lang unter fünf Prozent liegt.

In Deutschland werden die Tests knapp

Tatsächlich sagen die deutschen Behörden, dass die Tests inzwischen wieder knapp werden. Breites Testen auch von Personen ohne Symptome, wie es im Sommer und in den Herbstferien gemacht wurde, könne man sich „jetzt nicht mehr in dem Maße erlauben, weil die Zahl der Tests begrenzt ist“, teilt eine RKI-Sprecherin auf Anfrage mit. Deshalb sei es derzeit nicht das Ziel, die Positivrate zu drücken, „sondern die Tests möglichst zielgerichtet anzuwenden“.

Das RKI hat deshalb am Dienstag seine Testkriterien angepasst und wird nicht mehr alle Menschen mit Atemwegserkrankungen testen, sondern nur bei deutlicheren Symptomen oder etwa bei Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe – das macht ein Sinken der Positivrate unwahrscheinlicher. Auch in vielen weiteren europäischen Staaten wird inzwischen weniger breit getestet, wie die folgende Grafik zeigt.

Testpositivraten im weltweiten Vergleich
Die Grafik vergleicht die Prozentzahl der Tests, die seit Beginn der Pandemie mit positivem Ergebnis aus dem Labor zurückkamen.
Die Kurven sind nur eingeschränkt vergleichbar – manche Länder zählen durchgeführte Tests, manche hingegen getestete Personen. Da manche Menschen mehrfach getestet werden, kann das zu Verzerrungen führen. Die Grafik ist daher nur als Anhaltspunkt zu sehen. Die Werte einiger Länder wurden durch World in Data geglättet. Die Werte für Deutschland werden nur einmal wöchentlich durch das RKI gemeldet, nicht täglich.
Daten: Our World in Data, RKI

Der Zeitverlauf zeigt, dass im Zuge der ersten Welle die Testkapazitäten massiv ausgebaut wurden, bis sie eine niedrigere Positivrate erreichten. Jetzt steigen die Positivraten vielerorts wieder. Was genau bedeutet das?

Uneinheitliche Teststrategien sind ein Problem – in Deutschland und weltweit

Wenn vor allem Menschen mit stärkeren Symptomen getestet werden, zeigt sich das auch an einer steigenden Positivrate. Wer starke Symptome hat, hat das Virus mit einer größeren Wahrscheinlichkeit. Konzentriert sich ein Land also auf Menschen mit starken Symptomen, etwa aus Kapazitätsgründen, steigt die Positivrate. Epidemiologe Mikolajczyk zufolge informiert „die Testpositivrate im Prinzip darüber, wie umfangreich getestet wird.“ Je höher sie ist, desto weniger umfangreich wird also getestet.

Zu einer höheren Positivrate kann außerdem die Auslastung der Gesundheitsämter beitragen: „Wenn viele Kapazitäten vorhanden sind, gehen sie vielleicht großzügiger mit Tests um – und weniger großzügig, sobald ein Ausbruch die Kapazitäten strapaziert.“ Hinzu komme, dass die deutschen Ämter nicht komplett einheitlich handeln. Zwar gebe es Empfehlungen des RKI, am Ende entschieden aber die Gesundheitsämter vor Ort, wie sie testen. „Selbst in Deutschland wissen wir sehr wenig darüber, wer getestet wird.“

Die Kombination all dieser Faktoren führt dazu, dass die Aussagekraft der Positivrate begrenzt ist. Das ist auch bei internationalen Vergleichen ein Problem. Ländervergleiche seien zwar „schwierig“, sagt Mikolajczyk. Dennoch können Betrachtungen der Testpositivrate über die Zeit hinweg wertvoll sein, „wenn sich der Einsatz der Tests nicht stark ändert“. Denn „insbesondere in Verbindung mit der Anzahl von Neuinfizierten ist es wichtig zu wissen, ob sie aus einer umfassenden oder sehr restriktiven Testung kommen.“ Die WHO rege mit ihrer Fünf-Prozent-Empfehlung an, viel zu testen. Das sei richtig, sagt Mikolajczyk. Als exakte Kennzahl käme sie aber nur in Betracht, wenn die Testkriterien einheitlich wären.

Gesundheitswissenschaftler der Johns Hopkins University ziehen deutlichere Schlüsse aus der Positivrate. Wenn sie hoch ist, sei es „wahrscheinlich, dass der Grad der Coronavirus-Übertragung hoch ist.“ Und das kann zwei Gründe haben. Dann wird entweder nicht genug getestet, sodass etwa nur Leute mit deutlichen Symptomen getestet und in der Statistik erfasst werden. Oder das Virus verbreitet sich sehr stark, sodass ein sehr großer Anteil der Bevölkerung es in sich trägt - auch dann sind viele Tests positiv.

Die Testpositivrate erlaubt also niemals alleine klare Rückschlüsse, also Rückschlüsse, was genau gerade in einem Land schiefläuft, weil es so unterschiedliche Kombinationsmöglichkeiten von Gründen gibt. Sie ist aber ein sehr starkes Indiz dafür, dass die Pandemie in bestimmten Regionen außer Kontrolle gerät.

Testpositivraten in Europa
Die Grafik vergleicht die Testpositivraten ausgewählter europäischer Länder im Zeitverlauf.
Our World in Data, RKI

Die Grafik zeigt, dass Deutschland mit einer Testpositivrate von 5,62 Prozent laut RKI im Vergleich zu Tschechien – dem europäischen Staat mit der derzeit höchsten Positivrate (31,9 Prozent) – trotzdem noch vergleichsweise gut dasteht. Andere europäische Länder stehen aber noch wesentlich besser da. Finnland hat im europäischen Vergleich die zweitniedrigste Positivrate von derzeit 1,8 Prozent.

Finnland sichert seinen Bürger*innen seit August schnelle Tests zu. Niemand soll dort länger als 24 Stunden auf einen Test warten müssen, heißt es von der Regierung. Nach weiteren 24 Stunden soll das Ergebnis bereitstehen. Von solch Effizienz können die Menschen in Berlin nur träumen. Und auch Menschen ohne Symptome sollen in Finnland getestet werden, wenn es im Umfeld einen Covid-19-Fall gab. Die Strategie geht anscheinend auf: Die Positivrate in Finnland ist weiterhin niedrig, die neuen Fälle halten sich mit knapp 25,9 pro 100.000 (Deutschland: 133,3) in Grenzen.

Die Grenzen des Testens

Auch Tschechien testet viel. Trotzdem ist dort die Positivrate zuletzt stark gestiegen. Das kann ein Indiz dafür sein, dass die Behörden mit dem Testen nicht mehr hinterherkommen. Es zeigt aber auch die Grenzen des Testsystems an sich. Denn die Testkapazitäten können nicht beliebig hochgefahren werden, es wird schlicht irgendwann zu teuer, Materialien fehlen oder das notwendige Fachpersonal. Dazu passt, dass Tschechien mit 776,7 die europaweit zweithöchste Neuinfektionsrate pro 100.000 Einwohner hat.

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Außerdem ist die Testzahl pro 100.000 Einwohner*innen in der Tschechischen Republik mit 2,56 etwa so hoch wie Finnland – die von Belgien ist sogar höher. Das heißt, dort wird eigentlich viel getestet. Steigende Positivraten trotz vieler Tests sprechen dafür, dass sich das Virus dort aktuell besonders stark verbreitet. Und es gilt als Indiz dafür, dass die Zahlen der Neuinfizierten die Pandemie nicht mehr gut abbilden. Die Folge ist, dass man kein realistisches Bild mehr von der Verbreitung und den Ansteckungen hat. Dann wird angenommen, dass die Infizierten-Dunkelziffer steigt.

Steigende Fallzahlen durch steigende Tests sind ein alarmierendes Signal, kein Fehler

Die von „Coronaskeptikern“ bemühte Formel „mehr Tests = mehr Fälle“, die angeblich den Anstieg der Fallzahlen allein erklären sollen, könnte hingegen höchstens in Ländern gelten, die bisher viel zu wenig testen. Mexiko ist so ein Land.

Hier ist die Positivrate mittlerweile mit knapp 52 Prozent extrem hoch, während die Zahl der Tests kaum gestiegen ist. Mit knapp 10 Tests pro 100.000 Einwohner*innen hat Mexiko eine der niedrigsten Testraten weltweit. Mexiko testet nur Kranke mit Verdacht auf Covid-19. Das Land hat eine der höchsten Todesraten weltweit.

Würde Mexiko die Testkapazität drastisch hochfahren, würden zunächst möglicherweise mehr Fälle gefunden, während die Positivrate sinken würde: Mehr Tests würden zunächst mehr Fälle ergeben. Sobald aber die Testrate auf einem guten Niveau angekommen wäre und auch ausreichend Menschen ohne Symptome getestet werden, funktioniert diese Formel hingegen nicht mehr. Man findet dann nicht einfach immer mehr Fälle, sondern findet jetzt auch mehr Leute ohne das Virus. In Ländern, die bereits viel testen, lässt sich ein Anstieg der Neuinfektionen also nicht allein mit einem Anstieg der Tests erklären. Auch Epidemiologieprofessor Mikolajczyk sagt, die Theorie sei falsch und vielfach widerlegt. Es stimme zwar, dass mehr leichte und asymptomatische Fälle entdeckt würden, je mehr getestet werde. Aber das erkläre Anstiege keineswegs. „Wenn man zum Beispiel zehn Prozent mehr testet, aber 30 Prozent mehr Fälle findet, können die zusätzlichen Tests die Infektionen nicht erklären.“

So unterschiedlich viel wird in einzelnen Ländern getestet
Die Grafik zeigt die Tests pro 100.000 Einwohner*innen in verschiedenen Ländern der Welt.
Daten: Our World in Data

Wegen der hohen Kosten ist die Positivrate also auch ein Indikator für die Leistungsfähigkeit eines Gesundheitssystems und den Reichtum eines Landes. Denn sowohl die Tests selbst als auch die Infrastruktur, um sie durchzuführen, sind teuer. Das Portal „Our World in Data“ hat analysiert, dass die Positivrate im Durchschnitt niedriger ist, je höher das Bruttoinlandsprodukt ist. Nur wer Geld hat, kann sich radikale Maßnahmen gegen das Virus leisten. So etwa die Slowakei, die am Sonntag ankündigte, die Hälfte der Bevölkerung durchtesten zu wollen. Auch Südkorea hat sich früh entschieden, sehr viel zu testen – und zwar immer mehr, bis die Positivrate bei einem Prozent lag. Gesetze, die im Zuge der MERS-Epidemie 2015 verabschiedet worden waren, halfen bei der schnellen Umsetzung.

Diesem Testregime hat Südkorea es laut der WHO zu verdanken, dass dort die Kurve schnell abgeflacht werden konnte es niedrige Todeszahlen gab. „Tests in großem Maßstab können zu einer früheren Erkennung von Fällen, einschließlich asymptomatischer Fälle, führen und somit viele neue Infektionen und Krankenhausaufenthalte verhindern“, so die WHO.

Die Testpositivrate zeigt also, ob ein Land genug testet und wie breit getestet wird. Das wiederum gibt Hinweise darauf, wie gut der Überblick über die Neuinfektionen ist. Und das ist wichtig, um Ansteckungen zu vermeiden und die Pandemie unter Kontrolle zu bringen. In den kommenden zwei Wochen wird sich zeigen, ob es Deutschland mit seinem Lockdown Light gelingt, die Testpositivrate wieder zu drücken.

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Über die Autorinnen und Autoren

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Veröffentlicht am 5. November 2020.
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