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Neue Daten zu Drogenkonsum in Großstädten

„Nie dagewesener Kokainkonsum“

Die Corona-Pandemie ist vorbei, der Drogenkonsum schnellt in die Höhe. Karten und Grafiken einer europaweiten Abwasseranalyse zeigen stadtgenau: Der Kokainkonsum steigt rasant, aber auch der von MDMA und Ketamin.
Die Corona-Pandemie ist vorbei, der Drogenkonsum schnellt in die Höhe. Karten und Grafiken einer europaweiten Abwasseranalyse zeigen stadtgenau: Der Kokainkonsum steigt rasant, aber auch der von MDMA und Ketamin.

Welche Drogen konsumierten die Europäer 2023? „Es war ein Jahr der Stimulanzien“, beschreibt João Pedro Matias den Drogenkonsum Europas im vergangenen Jahr. Er ist Analyst bei der EMCDDA, der Europäischen Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht, die jährlich das Abwasser rund 100 europäischer Städte auf Drogenrückstände untersucht. Die neueste Analyse ergab: Der Kokainkonsum in Europa steigt deutlich an, auch MDMA und Ketamin wurden 2023 vermehrt genutzt.

Diese Analyse ist die größte ihrer Art. Sie ermöglicht, Konsummuster in den Städten zu vergleichen. Neben den Stimulanzien Kokain, MDMA, Amphetamin (Speed) und Methamphetamin werden auch Ketamin- und Cannabisrückstände erfasst. Der Tagesspiegel und der Rechercheverbund „Urban Journalism Network“ haben die Daten vorab erhalten und in Karten und Rankings visualisiert.

Die Städte machen freiwillig bei der Erhebung mit. In Deutschland haben Dortmund, München, Saarbrücken, Magdeburg, Erfurt, Nürnberg, Dresden und Chemnitz teilgenommen.

Berlin hingegen fehlt dieses Jahr. Hier haben Behörden und Politik offenbar wenig Interesse an den Ergebnissen: Die Berliner Wasserbetriebe wollen die Analyse nicht mehr ohne Beauftragung durchführen, keine andere Verwaltung oder Behörde meldete Interesse an – offenbar nicht einmal die Landes-Drogenbeauftragte. Wie es dazu kam, können Sie hier nachlesen.

Der Kokainverbrauch ist in zwei Dritteln der beobachteten Städte gestiegen, insgesamt um 9,2 Prozent. Nur 16 Städte konnten reduzierte Kokainrückstände in ihrem Abwasser feststellen. Für Matias bestätigt das einen Trend: „Wir können in allen Ländern, über die wir langfristige Messdaten haben, einen nie dagewesenen Kokainkonsum beobachten.“

Die diesjährigen Ergebnisse untermauern Matias zufolge den Anstieg des Kokainkonsums in europäischen Städten. Schon vergangenes Jahr hatte der Kokainkonsum laut der Abwasser-Analyse ein neues Allzeithoch erreicht.

Doch auch in Zentral- und Nordeuropa ist der Kokainverbrauch im Vergleich zu 2022 gestiegen. Finnland, Slowenien, Estland, Schweden und Österreich sind unter den Spitzenreitern. In Deutschland fällt der Anstieg besonders drastisch aus. Der Kokainkonsum ist hier um 41 Prozent angewachsen.

Mit 56 Prozent Anstieg ist Dortmund eine der deutschen Städte mit einem starken Kokain-Anstieg im Abwasser. Wolfram Schulte leitet die Dortmunder Drogenberatungsstelle DROBS. „Der Preis für eine Konsumeinheit ist seit der letzten Kokainwelle in den 90ern deutlich gesunken.“ Da viele Abhängige mehr als eine Droge konsumierten, spiele die Verfügbarkeit eine große Rolle. „Die Leute sagen dann, wenn Kokain da ist, konsumiere ich das natürlich“, sagt Schulte.

Der globale Kokainmarkt erlebte um 2015 einen Wandel, seitdem wird vor allem in Ländern wie Kolumbien mehr und mehr produziert. Der Westen und Norden von Europa gehören zu den wichtigsten Märkten. Städte in den Niederlanden bilden die Mehrheit innerhalb der Top fünf und auch der Top zehn Städte mit den höchsten Abwasser-Rückständen nach Bevölkerung.

Wie messen Wissenschaftler Drogen im Abwasser?

Da der Gebrauch von vielen Drogen in europäischen Ländern verboten ist, bieten herkömmliche Methoden wie Umfragen allein keine gute Datengrundlage. Abwasseranalysen sind eine der wenigen Möglichkeiten, Drogenkonsum über die Bevölkerung hinweg zu messen.

Die neusten Daten der EMCDDA stammen aus 94 Städten in 24 europäischen Ländern und wurden am 20. März 2024 veröffentlicht. Für die Erhebung des Datensatzes wurden in jeder Stadt für eine Woche täglich Abwasserproben analysiert. Die Messungen wurden je nach Stadt im Zeitraum zwischen März und Mai 2023 durchgeführt. In jeder Stadt haben die Analysten darauf geachtet, dass zum Zeitpunkt der Probeentnahme keine Festivals oder andere große Events stattfanden.

Um die Daten zu erheben, werden in der Kläranlage Proben entnommen und in einem Labor analysiert. Forschende analysieren die Abwasserprobe und errechnen mithilfe statistischer Methoden die Menge einer Droge, die von der Bevölkerung im Einzugsgebiet durchschnittlich konsumiert wurde. Das macht einen Vergleich des Drogenkonsums in europäischen Städten möglich.

Wenn beispielsweise Kokain eingenommen wird, baut der Körper die chemischen Verbindungen ab. Am Ende des Prozesses ist Kokain ein Gemisch neuer Verbindungen im Körper, darunter Benzoylecgonin. Die Abbauprodukte, sogenannte Metabolite, landen in der Toilette und in der Kanalisation, meist in der Nähe des Ortes, an dem die Droge konsumiert wurde.

Ähnlich sieht es bei MDMA aus: Mit Rotterdam, Amsterdam, Utrecht und Leeuwarden liegen vier niederländische Städte in den Top Zehn. Die Niederlande gelten als wichtiger Produktionsort der synthetischen Droge, die vor allem auf Partys konsumiert wird.

Nach Ketamin ist die Nachweisrate von MDMA im Abwasser im Vergleich zu 2022 am stärksten gestiegen, am signifikantesten in Deutschland: um 136 Prozent. Der Anstieg könnte mit der sich von Lockdowns erholenden Club- und Festivalszene zusammenhängen. Am wenigsten MDMA wurde im Vergleich zum Vorjahr in Portugal konsumiert. Hier gingen die nachweisbaren Abbauprodukte – so genannte Metabolite – um knapp 60 Prozent zurück.

Auch der Methkonsum steigt in Deutschland weiter

Europaweit ist der Konsum aller analysierten Drogen angestiegen, mit einer Ausnahme: Metamphetamin, auch bekannt als Meth oder Crystal, wird weniger genutzt. 2022 war noch vermehrter Konsum messbar gewesen, nun ist er zurückgegangen. Zwar ist Tschechien, traditionell Meth-Hotspot, noch immer Spitzenreiter unter den europäischen Ländern. Doch dort wurde die Droge zuletzt zu 37 Prozent weniger konsumiert.

Dafür ist die Nutzung in benachbarten Städten in Deutschland und Österreich angestiegen. Dadurch, dass in Tschechien nicht mehr so viel konsumiert wird, in Städten wie Erfurt, Nürnberg und Chemnitz dafür umso mehr, teilen sich Deutschland und Tschechien die ersten neun Plätze im Städteranking, gefolgt vom slowakischen Bratislava.

Insgesamt ist der Konsum in Deutschland um gut 25 Prozent gestiegen, am stärksten in Erfurt. Chemnitz bleibt unter den deutschen Städten an der Spitze.

Die tschechische Vorherrschaft im Methkonsum stammt aus der traditionellen Eigenherstellung von Methamphetamin. Warum die Werte 2023 so stark zurückgegangen sind, können die Experten vom Büro des nationalen tschechischen Koordinators für die Drogenbekämpfung nicht sagen.

Mit Meth chemisch verwandt ist Amphetamin, auch als Speed oder Pep bekannt. Traditionell vorzugsweise in Nordeuropa genutzt, scheint Speed nach den diesjährigen Daten breiter verteilt zu sein.

João Pedro Matias von der EMCDDA erklärt diese kleineren Veränderungen mit einem Wettbewerb zwischen Meth und Speed um ein ähnliches Marktsegment. „Das Bild kann sich von einem Jahr zum nächsten komplett verändern.“ Er betont, dass Speed weiterhin primär in Nordeuropa konsumiert wird.

Der Ketaminkonsum hat sich 2023 mehr als verdoppelt

Erstmalig hatte die Erhebung von 2022 das Abwasser einiger Städte auch auf Ketaminrückstände untersucht. Der aktuelle Bericht von 2023 schließt mehr Städte mit ein und zeigt die Verbreitung des als Partydroge benutzten Narkotikums in Europa, vor allem im Westen. „Wir wussten aus verschiedenen Quellen, wie Umfragen und Entwicklungen auf dem Schwarzmarkt, dass Ketamin auf dem Vormarsch ist. Im zweiten Jahr der Messung können wir endlich Trends ausmachen“, erklärt Matias.

Der Ketaminkonsum hat sich 2023 mehr als verdoppelt. Bristol, Antwerpen, Rotterdam, Barcelona und Zürich führen die Abwasserstatistik an. In Deutschland fehlen Daten für einen Vergleich zum Vorjahr. Spitzenreiter im Konsum ist 2023 Magdeburg, dicht gefolgt von Dresden.

Die von der EMCDDA analysierten Abwasserdaten bieten eine weitere interessante Perspektive: den Vergleich über die Zeit hinweg, insbesondere den Unterschied zwischen Wochentagen (Dienstag bis Donnerstag) und Wochenende (Freitag bis Montag). Bestimmte Substanzen stehen eher mit Freizeitkonsum und Nachtleben in Verbindung.

Das deutlichste Beispiel ist MDMA: Die Rückstände sind in allen untersuchten europäischen Städten am Wochenende deutlich erhöht.

Neben MDMA weisen die meisten Städte am Wochenende auch höhere Rückstände von Speed, Kokain und Ketamin auf. „Dieses Muster ist für Ketamin besonders interessant, weil es auf eine berauschende Verwendung anstatt auf eine medizinische schließen lässt“, sagt Matias. Im Kontrast zu den Wochenenddrogen stehen Cannabis und Meth. Sie wurden über alle Tage hinweg gleichmäßiger konsumiert.

Für Meth-Rückstände stellt die EMCDDA sogar noch weniger Variation zwischen Wochentagen als in den letzten Jahren fest, was auf eine regelmäßigere Nutzung der stark abhängig machenden Droge hinweisen könnte.

Alltagsdroge Cannabis

Die bei weitem meistgenutzte Droge in Europa ist laut neustem europäischen Drogenbericht Cannabis. Umfragen zufolge haben acht Prozent der Europäer im Alter zwischen 15 und 64 Jahren im Jahr 2023 Cannabis konsumiert.

Die Städte mit dem höchsten Anteil des Cannabis-Rückstands THC-COOH pro Kopf liegen in den Niederlanden, Spanien, Slowenien und der Schweiz. Insgesamt ist der Konsum 2023 um 8,15 Prozent gestiegen, das größte Wachstum wurde in Slowenien, Spanien, den Niederlanden und Italien gemessen. Doch in vielen Städten fiel der Konsum auch.

Matias kann diese entgegengesetzten Trends für den Cannabiskonsum auf Basis anderer Datenquellen bestätigen. „Was wir jedoch beobachten können, sind mehr Menschen, die stark konsumieren.“ Das gehe aus einer gestiegenen Inanspruchnahme von therapeutischer und medizinischer Behandlung aufgrund von Cannabiskonsum hervor.

Die Cannabis-Legalisierung war in verschiedenen Ländern in Europa zuletzt Gegenstand politischer Debatten. In Malta und Luxemburg ist der individuelle Konsum bereits erlaubt, in Tschechien wird über einen Gesetzesvorschlag diskutiert. In Deutschland wurde die Teillegalisierung im Februar vom deutschen Bundestag auf den Weg gebracht. Ob der Bundesrat das Gesetz bis zum geplanten Inkrafttreten am 1. April verabschieden wird, ist momentan fraglich.

Dieser Artikel wurde als Teil des Urban Journalism Network produziert, einem Netzwerk europäischer Medien, das sich den Herausforderungen europäischer Großstädte und Länder widmet. Das Projekt ist eine Fortführung der europäischen Recherche Cities for Rent und wird vom Stars4Media-Programm gefördert.

Das Team

Corin Baurmann
Recherche und Text
Nina Breher
Produktion
Katja Demirci
Redigat
Kirk Jackson
Webentwicklung
Gaby Khazalová
Koordination
Hendrik Lehmann
Koordination
Ilja Sperling
Webentwicklung
Lennart Tröbs
Design und Visualisierung
Veröffentlicht am 20. März 2024.