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Satelliten-Karten der zerbombten Städte

Das unvorstellbare Ausmaß von zwei Jahren Ukraine-Invasion

Russlands Angriffskrieg hat viele ukrainische Städte weitgehend zerstört. Eine Satelliten-Analyse zeigt, wie stark die Schäden an Gebäuden sind. Wer wird sie wieder aufbauen?
Russlands Angriffskrieg hat viele ukrainische Städte weitgehend zerstört. Eine Satelliten-Analyse zeigt, wie stark die Schäden an Gebäuden sind. Wer wird sie wieder aufbauen?

Zwei Jahre Krieg. Mehr als 10.000 zivile Todesopfer. 6,5 Millionen Geflüchtete. Und immer mehr kaum noch bewohnbare Städte in der Ukraine: Von mindestens 500.000 vollständig sowie 1,5 Millionen teilweise zerstörten Wohnungen und Wohnhäusern gehen Weltbank und ukrainische Behörden in einer aktuellen Berechnung aus.

Um das Ausmaß der Zerstörung seit Kriegsbeginn am 24. Februar 2022 greifbar zu machen, hat das Tagesspiegel Innovation Lab in Kooperation mit russischen Exiljournalisten von „iStories“ und Satellitendaten-Analysten von „Vertical 52“ Luftbilder dreier ukrainischer Städte ausgewertet: Mariupol, Sjewjerodonezk und Bachmut. Gebäudegenau lässt sich so zeigen, wie zerbombt die an Russland verlorenen Städte sind.

Mariupol fiel früh. Sechs Tage nach Kriegsbeginn marschierte die russische Armee ein. Anderthalb Monate verteidigte die ukrainische Armee die strategisch wichtige Hafenstadt. Am 20. Mai 2022 ergaben sich die letzten Kämpfer im Asowstal-Stahlwerk.

Heute ist Mariupol kaum wiederzuerkennen: Rund 36.000 Gebäude sind unserer experimentellen Analyse zufolge beschädigt, das entspricht etwa 36 Prozent aller Bauten in der Stadt.

Um die beschädigten Gebäude zu ermitteln, haben Analysten von „Vertical 52“ Radar-Satellitendaten von vor und nach den Kampfhandlungen ausgewertet. Sie identifizieren Veränderungen auf der Erdoberfläche. Um zu erkennen, was davon Gebäudeschäden sind, wurden die Daten automatisiert mit Gebäudeumrissen abgeglichen. Hat sich das Dach eines Gebäudes – egal, ob Wohnhaus, Bürogebäude oder Schuppen – vor und nach Kämpfen deutlich verändert, wird das als Schaden gewertet.

Mit Satelliten Gebäudeschäden erkennen

Das Modell wurde für Zerstörungen in Gaza validiert. Bei Tests für die Ukraine-Ergebnisse ergab sich eine Genauigkeit von rund 80 Prozent. Die Analyse ist mit Blick auf die Ukraine experimentell. Es kann sein, dass kleinere Schäden übersehen oder intakte Häuser neben zerstörten fälschlicherweise als beschädigt erkannt werden. Hinzu kommt, dass bestimmte Arten von Zerstörung aus der Luft nicht erkennbar sind. Etwa, wenn ein Gebäude von innen komplett ausgebrannt ist, Fassade und Dach aber nicht schwer beschädigt sind.

Um Falscherkennungen zu vermeiden, wurde das Modell so kalibriert, dass nur größere Veränderungen als Schaden eingeordnet werden. Sonst riskiert man etwa, auch Veränderungen wie fehlende parkende Autos als Schaden einzuordnen. Es handelt sich um eine eher konservative Schätzung. Im Fall von Mariupol etwa geht die UN von deutlich höheren Zahlen aus: 90 Prozent der mehrstöckigen und 60 Prozent der kleineren Wohnhäuser Mariupols seien zerstört.

Das wohl berühmteste der zerstörten Gebäude in Mariupol ist das Stadttheater. In großen Buchstaben hatten Menschen, die hier Schutz suchten, „Дети“ (Kinder) auf den Vorplatz gemalt. Es half nichts: Am 16. März 2022 zerstörten russische Bomben das Gebäude. 15 Tote konnte Human Rights Watch verifizieren, laut Stadtverwaltung starben 300.

Für die gesamte Ukraine geht die Weltbank in einem aktuellen Bericht von 60 Milliarden US-Dollar Wiederaufbau-Kosten allein für Gebäude aus. Mariupols Wiederaufbau ist ein Propaganda-Projekt der russischen Behörden, die die Stadt inzwischen kontrollieren. In einem eigens dafür angelegten Telegram-Kanal werden regelmäßig Nachrichten über den Bau neuer Wohnkomplexe, Schulen und Krankenhäuser veröffentlicht.

Laut „Human Rights Watch“ hat die russische Verwaltung den Großteil des Theaters mittlerweile abgerissen. An den Baugittern hängen Porträts: die russischen Autoren Alexander Puschkin und Lew Tolstoi, ironischerweise aber auch eines von Taras Shevchenko – ein ukrainischer Nationaldichter, der als Symbol für eine souveräne Ukraine gilt.

Auch Sjewjerodonezk in der Region Luhansk im Nordosten der Ukraine steht seit Juni 2022 unter russischer Hoheit. Rund 1500 Einwohner starben während der Kämpfe um die Stadt.

Vor dem Krieg wohnten hier etwa 100.000 Menschen, jetzt sind es nach Angaben der Anwohner nur noch sehr wenige, Schätzungen gehen von 10.000 aus. Wo sollen sie auch leben? 36 Prozent der Gebäude sind der experimentellen Analyse zufolge zerstört, darunter wichtige Infrastruktur wie ein Kraftwerk oder fürs Zusammenleben wichtige Orte wie der Eispalast.

Das riesige Stadion brannte im letzten Monat der Kämpfe um die Stadt nieder. Hier feierten Jugendliche ihren Schulabschluss, Kinder nahmen an Sportwettbewerben teil, Erwachsene kamen zu Konzerten. „Eines der Symbole von Sjewjerodonezk wurde zerstört“, schrieb der Vorsitzende der Militärverwaltung des Gebiets Luhansk, Serhiy Gaidai.

Sjewjerodonezk war noch nicht erobert, als die russische Armee im Mai 2022 begann, Bachmut anzugreifen. Es sollte die bisher längste Schlacht in diesem Krieg werden und eine der erbittertsten. Das bezeugt auch die Satelliten-Analyse: 66 Prozent aller Gebäude sind beschädigt. Kaum ein Bereich der Stadt ist noch intakt.

Fast alle sozialen, kulturellen und sportlichen Einrichtungen Bachmuts wurden zerstört oder beschädigt: Kindergärten und Schulen, Stadien, Jugend- und Kinderzentren. So auch die 120 Jahre alte Eisenbahn-Hochschule der Stadt. Die im postsowjetischen Raum verbreiteten Eisenbahn-Kollegs bilden Menschen aus, die eine Karriere bei der Bahn anstreben, etwa Ingenieure. Die Bachmuter Institution brannte aus, das Kolleg ist mittlerweile in die Stadt Dnipro umgezogen.

Ende Mai 2023 verkündete der Leiter der russischen Söldnergruppe Wagner, Jewgeni Prigoschin, die Eroberung Bachmuts. Nach Angaben des Bürgermeisters von Bachmut, Alexej Reva, lebten am Ende der Kämpfe noch rund 500 Menschen in der Stadt. Vor der Invasion waren es etwa 70.000. Russland hatte eine weitere ukrainische Stadt fast unbewohnbar gemacht – wie viele werden noch folgen?

Das Projekt wurde von der russischen Exil-Medienorganisation „iStories“ in Zusammenarbeit mit den Satellitenjournalisten von „Vertical 52“ durchgeführt. Die Analyse der Menge zerstörter Gebäudestrukturen basiert auf ESA Sentinel-1-Radardaten. Die Daten wurden vom Tagesspiegel Innovation Lab visualisiert. Die Recherche wird über das Urban Journalism Network veröffentlicht, dessen Mitglied der Tagesspiegel ist.

Das Team

Nina Breher
Koordination und Text
Kirk Jackson
Webentwicklung
Hendrik Lehmann
Konzept und Koordination
Ilja Sperling
Webentwicklung
Lennart Tröbs
Design und Visualisierung
Polina Uzhvak (iStories)
Recherche
Marcus Pfeil (Vertical52)
Satelliten-Analyse
Veröffentlicht am 22. Februar 2024.
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