Artikel teilen
teilen

Was hat die EU gegen die Wohnungskrise getan? Und warum tut sie nicht mehr?

Noch nie war das Thema Wohnen im Europäischen Parlament so präsent wie in den letzten Jahren. Eine Analyse zeigt: Es gibt zahlreiche Ansätze für EU-Lösungen zur Bewältigung der Wohnungskrise. Widerstand kommt von rechts.
Noch nie war das Thema Wohnen im Europäischen Parlament so präsent wie in den letzten Jahren. Eine Analyse zeigt: Es gibt zahlreiche Ansätze für EU-Lösungen zur Bewältigung der Wohnungskrise. Widerstand kommt von rechts.

Am 5. März 2024, dreizehn Jahre nach dem letzten Treffen der europäischen Wohnungsbauminister, unterzeichnen Handelsminister und hochrangige Beamte aus 19 europäischen Ländern die „Erklärung von Lüttich zur Zugänglichkeit von Wohnraum in der Europäischen Union“. In der nächsten Legislaturperiode soll daraus ein „New Deal für erschwinglichen und sozialen Wohnungsbau“ werden.

Aber der Meinung sind bei weitem nicht alle Parteien in der EU.

Es ist eins der drängendsten Themen in Städten Europaweit. In vielen Ländern leben bereits über 30 Prozent der Menschen in sogenannter „Wohnungsarmut“. Das heißt, sie müssen mehr als 40 Prozent ihres Einkommens für Miete oder Hypothek ausgeben.

Viele Ursachen für die Wohnungskrise sind nicht lokal spezifisch, sondern europaweit ähnlich: Zunehmende Landflucht, mehr Zuzug in die Großstädte, steigender Tourismus – und immer mehr Kapital großer Anleger, das in den Wohnungsmarkt drängt und auf hohe Renditen hofft. Einzelne Städte und Länder können das alleine nicht lösen, denn der internationale Kapitalmarkt kennt keine Ländergrenzen. Und die extrem steigenden Baukosten sowie Regularien machen es selbst Wohnungsbaugenossenschaften schwer, bezahlbaren Wohnraum zu bauen.

Tatsächlich hat das EU-Parlament das Thema „bezahlbaren Wohnraum“ in der vergangenen Legislaturperiode wiederholt auf die Tagesordnung gesetzt. „Wir brauchen mehr Maßnahmen für bezahlbaren Wohnraum“, sagte der Kommissar für Beschäftigung und soziale Rechte Nicholas Schmit aus der Fraktion der progressiven Sozialdemokraten im EU-Parlament (S&D).

Schmit, ein Spitzenkandidat für die Präsidentschaft der Kommission, spricht sich unter anderem für eine Aufstockung der EU-Mittel für Investitionen in bezahlbaren Wohnraum aus. „Das Recht auf Wohnen ist ein Grundsatz der europäischen Säule sozialer Rechte, aber immer mehr Menschen haben Probleme, sich angemessenen Wohnraum leisten zu können.“

Die Erklärung von Lüttich geht auf die Initiative des wallonischen sozialistischen Wohnungsbauministers Christophe Collignon zurück. Als Belgien den Vorsitz im Europarat innehatte, nutze er die Gelegenheit seine Kollegen zusammenzubringen. Die Erklärung zeigt, dass europäische Politiker der Wohnungskrise vermehrt Aufmerksamkeit schenken.

Langsam bekommt die Wohnungskrise Aufmerksamkeit

„Diesen Eindruck habe ich auch“, sagt die niederländische Europaabgeordnete Kim van Sparrentak aus der Fraktion der Grünen/Freie Europäische Allianz, die sich für ein Recht auf Wohnen einsetzt. „Zum ersten Mal sprechen die politischen Parteien und sogar die Spitzenkandidaten über das Thema Wohnen und darüber, wie wir diese Krise bewältigen können.“

Sorcha Edwards, Generalsekretärin von Housing Europe, dem Verband der öffentlichen, sozialen und genossenschaftlichen Wohnungsbaugesellschaften, teilt diesen Eindruck: „Ich würde nicht behaupten, dass vorher nichts passiert ist, aber in dieser Legislaturperiode hat sich die Diskussion um Wohnungsfragen im Europäischen Parlament definitiv verstärkt.“

In Anbetracht der Tatsache, dass die Wohnungskrise ein dringenderes Problem sei als je zuvor, mache die zunehmende Aufmerksamkeit Sinn. „Das politische Bewusstsein für dieses Thema ist in dieser Wahlperiode definitiv gewachsen.“

Anfang 2020 verabschiedete das Europäische Parlament die Sparrentak-Resolution zum Recht auf bezahlbaren und angemessenen Wohnraum. Darin wird unter anderem die Besorgnis über die zunehmende „Finanzialisierung“ des Wohnungsmarktes hervorgehoben: „Investoren betrachten Wohnraum als handelbare Ware und nicht als Menschenrecht.“

„Es kann noch viel passieren“, sagt die Europaabgeordnete Kim van Sparrentak. „Es wäre unklug, wenn das EU-Parlament vorschreiben würde, was wo gebaut werden soll.“ Aber bei Themen wie der Regulierung der Kapitalmärkte oder von Plattformen wie Airbnb, Transparenz auf dem Wohnungsmarkt oder die Bekämpfung der Obdachlosigkeit, könne die EU viel mehr Ziele setzen und auch durchsetzen. „Denn wenn es um soziale Themen geht, setzt die EU zwar Ziele, aber sie werden im Vergleich zu anderen Themen wie Landwirtschaft oder Umweltpolitik viel weniger verfolgt“, sagt Kim van Sparrentank.

Die Risiken und Nebenwirkungen europäischer Gesetzgebung

„Die Macht der EU liegt auf einer anderen Ebene, nämlich auf der makroökonomischen. Aber genau solche Regulierungen können sich auch auf den Wohnungsbau auswirken“, sagt Sorcha Edwards. „Um nur einige Beispiele zu nennen: Schuldenregeln, Steuern, Wettbewerb, aber auch die Regulierung von Plattformen im Rahmen des Gesetzes über digitale Dienstleistungen, die Finanzialisierung und Finanzierung oder Energie durch den Green Deal.“

Das bedeute also nicht, dass keine Gesetze erlassen worden seien, die Auswirkungen auf den Wohnungsbau haben. „Aber oft sind diese Auswirkungen negativ und verteuern den Wohnraum“, sagt Edwards.

Beispiele für solche „Nebenwirkungen“ sind Regeln zur ökologischen Gebäudemodernisierung, die Mieten in die Höhe treiben können. Aber auch, wenn versucht wird, die Investitionen in Öl oder riskante Finanzmarktprodukte zu regulieren, kann das dazu führen, dass Großanleger stattdessen noch mehr in Wohnhäuser investieren – was die Preise weiter in die Höhe treibt. Dazu kämen die Regeln für den Kapitalmarkt oder die Rolle der Zentralbanken, sagt Edwards.

Sie plädiert daher für eine systematische Überprüfung, ob die europäische Gesetzgebung (in)direkte Auswirkungen auf den Wohnungsbau hat. „Um ehrlich zu sein, fehlt uns ein Überblick über die Gesamtauswirkungen der europäischen Gesetzgebung auf den Wohnungsbau“, sagt Edwards. „In vielen Fällen wissen wir einfach nicht, ob die verabschiedeten Maßnahmen negative Auswirkungen haben oder nicht.“

Einige politische Maßnahmen, die scheinbar nichts mit dem Wohnungsbau zu tun haben, hätten darauf komplexe negative Effekte. „Wir denken, dass es gut wäre, wenn sich die verschiedenen Generaldirektionen gelegentlich zusammensetzen würden, um die Auswirkungen neuer Gesetze auf den Wohnungsbau zu untersuchen.“ Zum Beispiel geben es keine Bewertung der Auswirkungen neuer Energievorschriften.

Wenig Mittel für sozialen Wohnungsbau

Das ist auch ein Anliegen der Euopaabgeordneten Kim van Sparrentak. „Nach der Finanzkrise 2008/09 wurden so viele Kürzungen vorgenommen, dass nur noch wenig übrigblieb, um in erschwingliche Mietwohnungen für die unteren und mittleren Einkommensschichten zu investieren“, sagt sie. „Wir müssen dafür sorgen, dass viel mehr in den sozialen Wohnungsbau investiert wird.“

Kim van Sparrentak sagt, dass die EU ihre Ansichten langsam ändere. „Das niederländische System des sozialen Wohnungsbaus wurde zum Beispiel oft kritisiert, weil es die Marktkräfte verzerrt, aber die Kritik an den staatlichen Beihilfen hat bereits aufgehört.“

Die EU könnte beispielsweise mehr Mittel für bezahlbaren Wohnraum bereitstellen. Der Europäische Fonds für Widerstandsfähigkeit und Resilienz hat Mitgliedstaaten die Flexibilität gegeben, wohnungsbezogene Maßnahmen in ihre nationalen „Konjunktur- und Resilienzpläne“ aufzunehmen. Dies geschah jedoch nur in begrenztem Umfang.

Ein europäischer Wohnungs-Fonds?

Housing Europe hat errechnet, dass von den mehr als 750 Milliarden Euro an Zuschüssen und Darlehen aus dem Corona-Wiederaufbaufonds gerade einmal 28,8 Milliarden in sozialen Schutz und sozialen Wohnungsbau geflossen sind.

Einige Mitgliedstaaten wie Spanien, Portugal und die Region Wallonien in Belgien, reservierten Mittel für den sozialen Wohnungsbau. Frankreich beispielsweise sanierte 20.000 Sozialwohnungen energieeffizient. „Auch im sozialen Klimafonds wurden Milliardenbeträge für nachhaltigen sozialen Wohnungsbau freigegeben. Wir sehen also eine Menge finanzieller Möglichkeiten“, sagt Housing Europe-Generalsekretärin Sorcha Edwards.

„Um wirklich etwas zu bewirken, sollten europäische Fonds für den Wohnungsbau eingerichtet werden“, schlägt sie vor. „Wir können viel für das Klima tun, indem wir Häuser energieeffizient renovieren, aber dafür sollten auch Mittel zur Verfügung stehen, damit sich die Menschen die Wohnungen auch leisten können.“

Rechte EU-Fraktionen stimmten gegen Airbnb-Regeln oder Wohnraum für alle

Obwohl die EU viele Möglichkeiten hat dafür zu sorgen, dass Wohnraum wieder erschwinglich wird, sind nicht alle Fraktionen des Europäischen Parlaments damit einverstanden. Eine Analyse des Abstimmungsverhaltens zu Wohnungsfragen im Europäischen Parlament zeigt, dass rechtskonservative und vor allem rechtsextreme Parteien gegen eine europäische „Einmischung“ in Wohnungsfragen sind.

Die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (EKR) stimmte beispielsweise gegen die Auflage für Vermietungsplattformen wie Airbnb, Daten zu teilen. „Dieses Rechtsinstrument ist eine Verordnung. Das ist viel strenger als eine Richtlinie in einem Bereich, der überwiegend in die nationale Zuständigkeit fällt: Tourismus“, sagt EKR-Sprecher Michael Strauss.

Die Fraktion stimmte auch gegen die neue „Richtlinie über die Gesamtenergieeffizienz von Gebäuden“, da darin keine Mittel vorgesehen seien und sie das Bauen verteuere. Die EKR-Fraktion stimmte ebenfalls gegen mehrere Teile des Berichts über den Zugang zu angemessenem, erschwinglichem Wohnraum für alle, „weil sie das Wohnungswesen nicht als eine geteilte Zuständigkeit zwischen Europa und den Mitgliedstaaten ansieht“.

Insbesondere stimmten Abgeordnete der EKR gegen Entschädigungs- und Umquartierungsmaßnahmen für Opfer von Zwangsräumungen, Mietkontrollen und Maßnahmen gegen die Finanzialisierung des Wohnungsmarktes.

Das gleiche Verhalten zeigt sich auch bei der Abstimmung über das Europäische Semester, das die sozialen Prioritäten für 2024 festlegt – oder bei einem Bericht über Gleichstellungsfragen, der sich mit den steigenden Lebenshaltungskosten und den Auswirkungen der Energiekrise befasst.

Die Mitte-Rechts-EVP-Fraktion und die rechtsextreme ID-Fraktion haben unsere Fragen zu ihrem Abstimmungsverhalten nicht beantwortet.

„Ein freier Markt ist keine Lösung für mehr bezahlbaren Wohnraum“

Kim van Sparrentak weist den Vorwurf zurück, dass die europäische Politik zu sehr in den Markt eingreifen und den Mitgliedstaaten Befugnisse wegnehmen würde. „Es geht genau darum, dass die EU keine Vorschriften machen sollte, aber allgemeine Ziele vorgeben kann, zum Beispiel für mehr bezahlbaren Wohnraum.“ Was auch immer auf europäischer Ebene getan werden könne, solle die EU einfach tun.

„Wir befinden uns in einer so großen Krise, dass ich es unverständlich finde, dass es Parteien gibt, die sich mehr Sorgen um das Funktionieren der Kapitalmärkte machen“, sagt van Sparrentak. „Aber ein freierer Markt ist keine Lösung für mehr bezahlbaren Wohnraum. Das ist inzwischen bewiesen.“

Dieser Artikel wurde im Rahmen des Urban Journalism Network erstellt. Das Netzwerk aus europäischen Medien widmet sich mit Datenanalysen und Investigativrecherchen den Herausforderungen europäischer Städte im Alltag der Menschen. Die Analyse wurde vom belgischen Netzwerkpartner, der Investigativ-Plattform „Apache“, erstellt. Die flämische Version dieses Artikels finden sie HIER.

Die Autorinnen und Autoren

Katja Demirci
Übersetzung und Redigatur
Hendrik Lehmann
Zusätzlicher Text und Produktion
Steven Vanden Bussche
Text und Recherche
Veröffentlicht am 9. Juni 2024.
javascript:console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })