Die Coronapandemie gilt als eine Zeit des Verzichts: auf Reisen, auf Treffen mit Familie und Freundinnen, auf Freizeitaktivitäten. 43 Prozent der Deutschen nahmen sich im Coronasommer als weniger mobil wahr. Zumindest war es im Juni und Juli so, als das Deutsche Luft- und Raumfahrtzentrum 1000 Menschen dazu befragte. Das scheint vorbei: Die Menschen sind diesen Herbst so mobil wie in den Jahren zuvor – und das, obwohl die Infektionszahlen derzeit rasant steigen.
Das zeigt eine Auswertung von anonymisierten Mobilfunkdaten der Firma Teralytics. Während der ersten Welle brach die Mobilität in Deutschland stark ein. Nun, inmitten der zweiten Welle, schränken die Menschen ihre Bewegungen kaum ein. Der blaue Bereich zeigt den Zeitraum, in dem Mobilfunkmasten 2020 weniger Bewegungen aufzeichneten als 2019. Rote Flächen zeigen, wann es mehr Mobilität als im Vorjahr gab.
Eine „Bewegung“ wird aufgezeichnet, wenn sich ein Handy bewegt und dabei in mehrere Mobilfunkmasten einloggt. Bleibt es länger als 60 Minuten (bei Flugreisen 240 Minuten) in einem Masten - oder in mehreren Masten, die aber nah beieinander liegen - registriert, gilt die Bewegung als abgeschlossen. Die Auswertung dieser Bewegungsdaten zeigt, dass sich Deutschland seit Ende Juli wieder etwa so viel bewegt wie im selben Zeitraum vor der Pandemie.
Gezählt werden Bewegungen von Mobilfunkgeräten, die sich über eine Strecke von mehr als zwei Kilometern Luftlinie bewegen. Teralytics rechnet die Daten mithilfe von statistischen Verfahren hoch, damit sie repräsentativ für die Bevölkerung sind. Sie zeichnen außerdem auf, in welchem Landkreis das Handy zuletzt länger eingeloggt war, in welchem die Bewegung endet und wie viele Kilometer Luftlinie es zurücklegt. Die Daten erfassen alle Arten von Bewegungen in allen Verkehrsmitteln: die von Pendlern und Touristen ebenso wie die von Joggern, Autofahrten ebenso wie Inlandsflüge. Eine Bewegung endet, wenn ein Handy über einen längeren Zeitraum an einem Ort bleibt.
Die Pandemie verändert allerdings, wohin wir uns innerhalb des Landes bewegen – und welche Verkehrsmittel wir benutzen. Wie zu erwarten war, fliegen immer noch deutlich weniger Menschen als vorher. Laut Umfragen sehen es Menschen in Flugzeugen als besonders wahrscheinlich an, sich mit Corona zu infizieren. Aber auch Reisen mit dem Zug haben abgenommen.
Da die Zahl der Bewegungen insgesamt jedoch wieder auf dem Vorjahresniveau liegt, kompensiert eine Zunahme im Individualverkehr anscheinend die gesunkene Zahl der Zug- und Flugreisen. Das könnte auch Teile der CO2-Ersparnisse wieder auffressen, auf die einige wegen der Pandemie hofften.
Doch auch wenn die Gesamtmobilität in den vergangenen Wochen und den Herbstferien wieder auf dem Level des Vorjahres war: Das Virus hat starken Einfluss darauf, wohin die Leute reisen. Dafür haben wir die Gesamtzahl der monatlichen Bewegungen auf die Einwohner des jeweiligen Kreises umgerechnet, mit den entsprechenden Zahlen vom Vorjahr verglichen und die prozentuale Veränderung zum Vorjahr berechnet. Sie erlaubt Rückschlüsse, in welchen Regionen es große Unterschiede zum Vorjahr gibt. Und darauf, zwischen welchen Orten wir uns bewegen. Ein erster Unterschied: Es gibt mehr Bewegungen innerhalb der Landkreise, also weniger Fernreisen, aber mehr Kurztrips. Ob das aus beruflichen Gründen, für Besorgungen oder als Freizeitbeschäftigung passiert, sagen die Daten nicht aus.
Auch während des Lockdowns im April nahmen die Bewegungen hier weniger drastisch ab als diejenigen, die in einem Landkreis begannen und in einem anderen endeten. Die Ergebnisse haben wir außerdem exemplarisch mit einer Datenanalyse von Millionen Fahrzeugbewegungen des Navigationsdiensts TomTom verglichen. TomTom erhebt für große Städte, wie oft es Verkehrsbehinderungen gibt. Daraus errechnet die Firma einen Verkehrsbelastungs-Index für Großstädte. Der „Traffic Congestion Index“ gibt an, wie viel Prozent länger es zu einer bestimmten Tageszeit in einer Stadt dauert, von A nach B zu kommen – im Vergleich zu verkehrsarmen Zeiten. Unterm Strich lässt sich daraus schlussfolgern, wo auf den Straßen besonders viel los ist.
Auch in diesen Daten zeigt sich: Die Reaktionen auf Corona unterscheiden sich zwar in einzelnen Städten, die Tendenz ist aber zumeist eine ähnliche.
Wenn das Coronavirus Nähe zu anderen Menschen zur Gefahr macht, werden Aufenthalte in Städten - so das Gefühl - automatisch zum Risiko. In vollen U-Bahnen und engen Innenstadt-Supermärkten kommt man sich näher als auf dem Land zwischen Feldern und Seen. Das ist auch die markanteste Veränderung, die die Handydaten zeigen, wenn man sich die Landkreise im Einzelnen anschaut. In vielen ländlichen Regionen gibt es diesen Herbst mehr Bewegungen als im vergleichbaren Zeitraum 2019. Am meisten Plus an Bewegung im Vergleich zu 2019 verzeichnen vor allem ländliche Kreise. Die meisten von ihnen gelten als Urlaubsregionen.
Die Auswertung zeigt: Während die Zahl der Bewegungen zwischen Mitte September und Mitte Oktober im Vergleich zum Vorjahr in ganz Deutschland um zehn Prozent niedriger war, nahm sie in diesen Kreisen sogar zu. Den größten Bewegungs-Zuwachs hat die Region Cochem-Zell in Rheinland-Pfalz – hier findet gerade die Weinlese statt. Viele weitere Landkreise, zum Beispiel in Brandenburg, sind ebenfalls Urlaubsregionen. Das legt nahe, dass trotz Beherbergungsverbot und Reisewarnungen mehr Herbsturlaub als sonst in Deutschland gemacht wird, nicht weniger.
Eine Auswertung des Statistischen Bundesamts kommt zu ähnlichen Ergebnissen: Die Zahl der Deutschen, die in deutsche Hotels eincheckt, war im August noch niedriger als 2019. Aber während es von Januar bis August zusammengerechnet 40 Prozent weniger inländische Gäste in Unterkünften gab, waren es im August nur noch 15 Prozent weniger. Campingplätze hatten im August sogar 15 Prozent mehr Zulauf als im Jahr davor. Und eine Befragung der European Travel Commission ergab: Einer von zwei befragten Deutschen hat vor, in den kommenden sechs Monaten zu reisen. Und 40 Prozent davon wollen das innerhalb von Deutschland tun.
Wer von dem innerdeutschen Tourismusboom wohl nicht profitieren wird, sind die großen Städte. Hier nimmt die Mobilität laut Handydaten vielerorts eher ab. Fast ausschließlich Stadtkreise führen die Liste der Kreise an, in denen weniger Bewegung stattfindet als im Vorjahr. Das deckt sich mit Branchenstatistiken. In Berlin waren im September 2020 laut Dehoga nur 40 Prozent der Zimmer belegt. Im Jahr davor lag die Auslastung bei rund 90 Prozent.
Die gesunkene Mobilität in vielen Ladkreisen könnte neben den fehlenden Touristen daran liegen, dass viele Berufspendler ihr Büro nach Hause verlagert haben. Die TomTom-Daten (s.o.) bestätigen den Eindruck.
Wie geht es weiter? Die Fallzahlen steigen rasant, immer mehr Landkreise gelten als Hotspots – in denen die Sieben-Tages-Inzidenz bei über 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern liegt? Eine Auswertung des Statistischen Bundesamts zeigt, dass dort die Mobilität im Vergleich zu weniger betroffenen Landkreisen um rund 6 Prozent geringer ist. Vielleicht ist es mit der neuen Reiselust im Inland also wieder vorbei, wenn bald fast alle Landkreise als Risikogebiete gelten.
Die Mobilfunkdatensätze hat die Schweizer Firma Teralytics zur eigenen Auswertung kostenlos zur Verfügung gestellt. Teralytics erhält anonymisierte Daten von Mobilfunkbetreibern und bereitet sie auf, um Mobilitätstrends auf regionaler Ebene zu analysieren. Diese Daten und Analysen verkauft Teralytics etwa an Verkehrsplaner und Transportunternehmen. Beispielsweise, um ihre Streckenplanung oder Fahrpläne anzupassen.
Teralytics rechnet die übermittelten Bewegungsdaten mithilfe von statistischen Verfahren hoch, sodass sie die Bewegungen in der Gesamtbevölkerung repräsentieren.
Die Bewegungsdaten werden datenschutzkonform erfasst und aufbereitet, wie das Unternehmen mitteilt. Die Daten sind konform mit der EU-Datenschutzgrundverordnung und mit deutschen Datenschutz-Vorgaben. „Unsere Technologie erfüllt alle nationalen und internationalen Datenschutz- und Sicherheitsstandards, die in den Regionen und Ländern gelten, in denen wir tätig sind“, teilt Teralytics mit. Auch die BVG und die Deutsche Bahn haben bereits Daten von Teralytics genutzt.
Wir haben sie heruntergeladen, auf die Ebene von Landkreisen zusammengefasst und auf die Bevölkerung der Landkreise umgerechnet. Für die Analyse auf Landkreisebene haben wir alle Kreise, die an deutschen Landesgrenzen liegen, herausgerechnet. Sonst würde auch Durchgangsverkehr erfasst, der die Ergebnisse verzerrt hätte. Denn Eintritte nach Deutschland würden so wirken, als wäre dieser Landkreis der Ausgangspunkt einer Reise innerhalb Deutschlands, da die Mobilfunkdaten nur für das Netz in Deutschland erfasst werden. Während der Analyse haben wir uns wiederholt mit Datenwissenschaftlerinnen von Teralytics ausgetauscht, um sicherzustellen, dass unsere Rechenwege zu den Daten passen. „Anstatt an internationale Ziele zu reisen, steuern die Menschen jetzt lieber inländische Destinationen an. Es macht daher Sinn, dass ländliche Ziele einen Aufwärtstrend verzeichnen”, sagt Georg Polzer, Head of Strategy bei Teralytics.