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Ausweg aus der zweiten Welle?

Bezwingt die Slowakei das Coronavirus mit Massentests und hohen Strafen?

Die Slowakei hat an zwei Wochenenden zwei Drittel der Bevölkerung durchgetestet. Wer sich weigert, muss in Quarantäne. Ist das die Lösung für die Pandemie – oder Propaganda?
Die Slowakei hat zwei Drittel der Bevölkerung durchgetestet. Wer sich weigert, muss in Quarantäne. Ist das die Lösung – oder Propaganda?
Leibesübung. Medizinisches Personal in einer Turnhalle in der slowakischen Stadt Prešov. Foto: Frantiöek Iván/TASR/dpa
Popup-Tests. Für die Massentests wurden im ganzen Land provisorische Teststationen eingerichtet. Foto: Michal Svìtok/TASR/dpa

In ganz Europa gewinnt die zweite Welle der Coronapandemie an Fahrt. Der Versuch, die Kontrolle zurückzugewinnen, verleitet einige Staaten zu Experimenten. So auch die Slowakei: Angesichts steigender Fallzahlen im Land und den Nachbarländern hat der EU-Staat an zwei Wochenenden zwei Drittel seiner Bevölkerung durchgetestet. In der beispiellosen wie rigiden Aktion testeten die Behörden 3,6 der 5,5 Millionen Einwohner – fast die gesamte Bevölkerung zwischen 10 und 65 Jahren. Indem so viele Infizierte wie möglich isoliert werden, sollen Infektionsketten unterbrochen und die Kurve abgeflacht werden. Die Maßnahme kam zum rechten Zeitpunkt: Nachdem die Slowakei von der ersten Welle weitgehend verschont geblieben war, steigen die Fallzahlen seit Oktober wieder rapide an, wie ein Blick auf die Infektionszahlen zeigt:

So lief die Testung ab

Die Massentestung war eine logistische Herausforderung: 20.874 Menschen, darunter Sanitäter, Soldaten, Bergretter, Verwaltungsmitarbeiter und Freiwillige, halfen mit. 2670 Teststellen gab es, viele davon kurzfristig neu eingerichtet. Bis zuletzt war unklar, ob genug Helfer gefunden werden könnten.

Getestet wurde in drei Schritten: Zuerst in vier besonders stark betroffenen Regionen, um das Verfahren auszuprobieren. Dann im gesamten Land. Vergangenes Wochenende wurde noch einmal flächendeckend getestet – außer in Regionen, in denen in der ersten Runde nur wenige Fälle gefunden worden waren. Am ersten Testwochenende waren 1,06 Prozent der Getesteten infiziert, am zweiten 0,66 Prozent.

An der Aktion beteiligten sich 3,6 Millionen Menschen. Ganz freiwillig war das nicht: Zwar war formal niemand dazu verpflichtet, sich testen zu lassen. Aber wer keinen negativen Test vorweisen kann, muss sich isolieren und darf seither nicht mehr zur Arbeit gehen. Geschäfte dürfen nur Kunden einlassen, die einen negativen Test vorweisen können. Wer sich nicht isoliert, aber kein Negativzertifikat vorweisen kann, riskiert eine Strafe von 1650 Euro. Letztlich sind es also indirekte Zwangsmittel, die die Bevölkerung zur Teilnahme am Test nötigen.

Kritiker sehen die Aktion als Propaganda

Die liberale Präsidentin der Slowakei, Zuzana Caputova, kritisierte im Vorfeld, man dürfe die Bürger nicht in solche mit einem „Passierschein für die Freiheit“ und solche ohne einteilen. So eine Einteilung sei „das Letzte, was wir in diesem Moment brauchen“. Der populistisch-konservative Ministerpräsident Igor Matovič hingegen rechtfertigt die Maßnahmen mit dem Infektionsschutz: Freiwilligkeit heiße nicht, dass jemand „freiwillig das Virus verbreiten“ könne.

Die Behörden bewarben die Massentests mit dem Spruch „Eine halbe Stunde Ihrer Zeit kann (nicht nur Ihr) Leben retten “ und gaben der Aktion den Titel „Operation gemeinsame Verantwortung“. Nicht nur die Wortwahl ließ manche eine politische Aktion vermuten. Wie sinnvoll Massentests sind, ist nämlich nicht klar. Der Chef der slowakischen Ärztekammer, Marian Kollar, sagte, die Maßnahme würde keinen signifikanten Effekt auf die Pandemie haben. „Das ist keine Expertenoperation, sondern eine politische Operation.“

Premier Matovič aber verbucht die Aktion als Erfolg auf ganzer Linie: „Die rückläufige Anzahl positiver Fälle brachte mir ein breites Lächeln ins Gesicht“, sagte er nach der Aktion.

Tatsächlich sinken zwar die Fallzahlen: Waren es auf dem Höhepunkt Ende Oktober, als die Massentests begannen, 3363 Neuinfektionen an einem Tag, waren es eine Woche später 2354 und zuletzt nur noch 1051. Das ist aber wohl nicht allein auf die Massentests zurückzuführen. Denn sie könnten ebenso mit den Einschränkungen des öffentlichen Lebens zusammenhängen, die schon vor den Tests eingeführt wurden. So sind etwa Schulen nur für Kinder bis zehn Jahren geöffnet, es gibt eine nächtliche Ausgangssperre. Und auch im Nachbarland Tschechien – dem EU-Land mit den derzeit höchsten Fallzahlen – sanken die Neuinfektionen zuletzt.

Jörg Timm, Leiter des Instituts für Virologie der Universität Düsseldorf, erklärt, warum es schwierig ist, die Maßnahme eindeutig zu beurteilen: „Die Effekte einzelner Maßnahmen sind schwer zu bewerten, weil meistens ganze Bündel von Maßnahmen beschlossen werden.“ Zudem sei denkbar, dass Maßnahmen von der Bevölkerung bereits vorweggenommen würden. „Wenn die Infektionsentwicklung die Aufmerksamkeit der Menschen erhält, etwa durch Medienberichte, verhalten sie sich vielleicht allein deswegen anders.“ Direkte Kausalitäten zwischen Maßnahmen und Effekten seien daher scher zu belegen. Es sei aber sicher gut, sich mit Tests einen Überblick über das Infektionsgeschehen zu verschaffen.

Nicht alle Experten sehen Massentests als die Lösung

Auch Rafael Mikolajczyk, Epidemiologie-Professor an der Universität Halle-Wittenberg, zweifelt an dem langfristigen Nutzen der Aktion: „Die Effekte einer Einmalaktion verpuffen schnell“, sagt Mikolajczyk. Gleichwohl seien sie eine „interessante Option, um kurzfristig Informationen zur Infektiosität zu gewinnen“. Menschen, die schon angesteckt wurden, aber noch nicht nachweisbar infektiös seien, würden von den Antigen-Tests nicht erfasst. Sowohl er als auch Virologe Timm von der Uni Düsseldorf halten Kontaktnachverfolgung für die effektivere Maßnahme.

Es ist also nicht ganz klar, ob der Nutzen von Massentests ihre hohen Kosten rechtfertigt. Auch deshalb haben wohl bisher nur kleine Länder wie Liechtenstein oder Monaco die Strategie angewendet. Dort ist der logistische Aufwand überschaubar. China wendete die Strategie in Städten wie Wuhan an.

Das RKI wollte das slowakische Experiment nicht kommentieren und verwies auf die eigene nationale Testrategie in Deutschland. In der sind Massentests nicht vorgesehen. Und der Berliner Senat ließ wissen: „Massentests für die gesamte Berliner Bevölkerung sind in dieser Phase der Pandemie nicht geplant.“

Die slowakische Regierung will die Massentestung bald wiederholen, um die Kurve immer wieder abzuflachen. In anderen Ländern könnte die Slowakei zum Vorbild werden: Großbritannien schickte Berater ins Land, um die Tests zu beobachten. In Liverpool läuft bereits ein britischer Pilotversuch. Dort hofft man, die Hälfte der Bevölkerung testen zu können – ohne Zwang, dafür mit leicht zugänglichen Tests und einer Website, die die Auslastung von Testzentren live anzeigt. „Diese Art von Massentests haben das Potenzial, eine mächtige neue Waffe im Kampf gegen Covid-19 zu werden“, sagte Premierminister Boris Johnson.

Wie zuverlässig sind die neuen Schnelltests?

Aber können Schnelltests diese Hoffnungen erfüllen? Das Ergebnis ist nach 15 Minuten da, und sie müssen nicht ins Labor geschickt werden. Wie ein Schwangerschaftstest zeigt er das Ergebnis durch eine Verfärbung auf dem Test an. Das Hauptproblem ist jedoch, dass Antigen-Tests weniger exakt sind als die herkömmlichen Polymerase-Kettenreaktions-Tests (PCR-Tests). „Menschen mit niedriger Viruslast findet man nicht“, erklärt Virologie-Professor Timm. Menschen mit vielen Viren hingegen schon: „Die Tests sind wahrscheinlich gut darin, jemanden zu finden, der eine hohe Viruslast hat und von dem ein hohes Infektionsrisiko ausgeht.“ Eine Unsicherheit, ob man ein geringes Infektionsrisiko übersieht, wird aber mit den Schnelltests bleiben. Timm rät dazu, auch bei einem negativen Schnelltest weiterhin die Hygieneempfehlungen zu beachten.

Die Autor*innen

Eric Beltermann
Datenvisualisierung
Nina Breher
Text & Recherche
Veröffentlicht am 13. November 2020.
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